Die “Für mich”-Kultur
Ein für unsere Geisteskultur äusserst bezeichnendes Phänomen ist mir letztes Semester an der Uni besonders aufgefallen: Jeder zweite Satz aus dem Mund eines Studenten oder einer Studentin (mich mit eingenommen) beginnt mit “Für mich”. Variationen davon sind “Ich persönlich empfinde”, “Meiner Meinung nach”, “Meine Position” und viele weitere. “Mein persönliches Empfinden” (!) gegenüber diesem Phänomen ist ziemlich ambivalent. Einerseits stellt es einen Fortschritt der Gesprächskultur und Demut dar: “Meine Meinung ist nicht über alle Zweifel erhaben! Ich bin mir bewusst, mit meinem begrenzten Erfahrungshorizont nur ein Teilchen zum grossen Puzzle beitragen zu können!” Gleichzeitig schütze ich mit den besagten Floskeln meine Aussagen vor jeglicher Kritik und biete anderen keine Angriffsfläche mehr. Ich verschaffe mir Immunität, indem ich sage: “Ich beschreibe hier nur mein ganz privates Set an Erfahrungen und Überzeugungen und beabsichtige in keiner Weise, die entsprechenden Sets anderer Menschen damit zu diskreditieren.”
Nun ist es aber “meiner Meinung nach” (!) nicht so, dass alle Menschen mit ihren Überzeugungen immer Recht haben. Hin und wieder ist es richtig, die eigene Immunität aufzugeben und die der anderen in Frage zu stellen. Die “Für mich”-Kultur sollte in solchen Momenten von einer “Nicht nur für mich”-Kultur abgelöst werden, in der Offenheit, Toleranz und Diskussionsbereitschaft für absolute Aussagen herrscht. In einer solchen Kultur geht es nicht unbedingt darum, die besagten Floskeln wegzulassen, sondern ihr oben beschriebenes negatives Bedeutungsspektrum zu eliminieren. Das “Für mich” im Zusammenhang mit einer absoluten Aussage bedeutet dann soviel wie: “Mir ist klar, dass meine Ansicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist – aber ich glaube, dass diese meine Überzeugung nicht nur für mich gilt und bin bereit zu erklären, warum ich so denke.”
Um das Ganze von der abstrakten auf die konkrete Ebene zu holen: Ich wünsche mir eine Gesprächskultur, in der Themen wie Religion, Gott, Leben nach dem Tod, Moral u.s.w. nicht von Anfang an mit dem Label “Privat-Überzeugung” etikettiert werden. Ich will offen meiner Überzeugung Ausdruck geben dürfen, dass mein Glaube nicht nur für mich schön und richtig ist. Ich wünsche mir eine gesunde Streitkultur, in der man sich aktiv mit den Glaubensüberzeugungen anderer auseinandersetzt und Fragen stellt, ohne Angst zu haben, jemandem auf die Füsse zu treten!
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