Scham- und Schuldgefühle sind uns allen vertraut, dennoch reden wir nicht gerne darüber oder forschen wir nicht nach ihren eigentlichen Ursachen. Das liegt einerseits darin begründet, daß wir oftmals die beiden Begriffe «Scham» und «Schuld» für identisch halten und fälschlicherweise im Austausch gebrauchen. Andererseits sind sie selten Thema christlicher Verkündigungen. Die Bedeutung der beiden Begriffe wird uns am besten von ihrem jeweiligen Gegenteil her deutlich, Der Gegensatz von Schuld ist Unschuld oder moralische Tadellosigkeit, während er bei Scham Ehre und Anerkennung ist. Wir denken da an Bibelworte wie:«… und ihre Ehre ist in ihrer Schande» (Phil. 3,19). Die Schande, die an und für sich schamwürdig wäre, wird hier von Gott als unehrenhaft bezeichnet. Scham und Schuld entstehen, wenn man bestimmten Anforderungen nicht genügt und von einem subjektiven Empfinden der Unzulänglichkeit und Schlechtigkeit begleitet wird. Dabei ist das Schuldgefühl eindeutig dem Bruch einer Verordnung, eines Gesetzes öder Gebotes zuzuschreiben und somit Bestandteil eines festen moralischen Rahmens. Weniger eindeutig ist, warum man sich in bestimmten Fällen schämt oder schändlich und minderwertig vorkommt. Es stellt sich daher die Frage, welchen Anforderungen wir nicht gerecht werden oder welche Maßstäbe verletzt werden, wenn wir Scham empfinden. Wenn wir die dreifache Beziehung zwischen Scham und Schuld betrachten, wird die Definition klarer.
1) Scham und Schuld können gemeinsam in einer Sache auftreten. Ich kann z.B. lügen und mich schuldig fühlen, weil ich weiß, daß dies nicht richtig ist, und mich gleichzeitig schämen, weil ich wieder nicht standfest genug war und versagte.
2) Scham und Schuld können unabhängig voneinander auftreten. Ich kann z.B. wissen, daß mein Handeln aus moralischer Sicht falsch war, ohne mich dafür zu schämen. Gleichermaßen kann. ich mich für Dinge schämen, die außerhalb des moralischen Bereichs liegen: z.B. arm zu sein oder keine berühmte Universität besucht zu haben. Die meisten Menschen empfinden auch bezüglich ihrer äußeren Erscheinung oder ihres Körpers ein gewisses Schamgefühl, das jedoch von der moralischen Fragestellung völlig unabhängig ist. Scham oder Unzulänglichkeits- bzw. Minderwertigkeitsgefühle sind daher auch in diesen moralisch neutralen Bereichen möglich.
3) Schuld und Scham können einander entgegenwirkend auftreten. Wir können uns z.B. für unser richtiges Handeln schämen, während wir andererseits ein gewisses Ehrgefühl oder innere Genugtuung empfinden, wenn wir dagegen verstoßen. Wir werden in der Bibel gewarnt, uns wegen Christus zu schämen, können aber folgende Reaktion bei uns beobachten: Glauben und sich auf die Seite Christi zu stellen, ist das moralisch Beste und trotzdem kommt es vor, daß man sich dessen schämt. Wie erklären wir diese beiden Gegensätze? Die Tatsache, daß Schuld und Scham getrennt voneinander und sogar gegeneinander wirksam sein können, zeigt, daß sie zwei verschiedenen Wertmaßstäben der Selbsteinschätzung unterliegen. Schuld und Unschuld sind mit Moral und somit den Begriffen «richtig und falsch» verknüpft, während sich Scham nach Modellen und Leitbildern, d.h. nach dem ausrichtet, was unserer Ansicht nach auf andere Eindruck macht. Da uns generell das Urteilen nach moralischen Kategorien vertrauter ist, möchte ich im folgenden auf die Leitbilder unseres Handelns näher eingehen. Jeder von uns hat innerlich eine bestimmte Vorstellung, wie er gerne sein möchte; Die Psychologen nennen das „Ich- ideal“. ”” eine Art eigenes Idealbildnis, an dem wir uns messen und das uns manch mal urplötzlich Scham empfinden läßt. Sartre illustriert das ausgezeichnet in seinem Buch „Das Sein und das Nichts“ Er beschreibt dort einen Mann, der jemanden belauschen will und dabei durch das Schlüsselloch der Tür guckt. Plötzlich hört er hinter sich Schritte und fühlt sich beobachtet. In einer solchen Situation würden sich die meisten von uns ungeheuer schämen, denn dieses Verhalten entspricht nicht meinem «Ich» (ich bin doch schließlich kein Schnüffler, der heimlich Leute ausspioniert ”” obwohl ich gerade dabei war). Ein solches Erleben hat wenig mit der Tatsache zu tun, von anderen beobachtet zu sein, sondern kommt aus dem Bewußtsein, mir mit diesem Verhalten selbst untreu geworden zu sein. Man ist über die Tatsache erschrocken, so wenig Haltung besessen zu haben, da man sich dem eigenen Idealbild bereits viel näher dünkte. Scham muß daher nicht zwingend mit öffentlicher Blamage verbunden sein, bringt jedoch in jedem Fall. einen schmerzlichen Verlust an Selbstvertrauen und das Gefühl der Unzulänglichkeit und des Versagens mit sich. Der bei uns Scham auslösende Moment steht in engem Verhältnis zu unserem eigenen Idealbild oder unserer Vorstellung, wie wir auf andere Eindruck machen können. Natürlich können uns unsere eigenen Leitbilder und Verhaltensmuster in Zwänge bringen. Wenn wir uns unangemessene, zu hohe Ziele setzen, die wir dann nicht erreichen können, werden frustrierender Scham und nagende Komplexe das Ergebnis sein. Denn unsere Leitbilder, wie unrealistisch sie auch sein mögen, werden einen ungeheuren Kontrolleffekt auf unser Leben aus üben. Zudem kommen wir unweigerlich in Probleme, wenn wir z.B. unsere Moralvorstellung der Bibel entnehmen und unser Verhalten vom «Zeitgeist» Hollywood prägen lassen. Wir sind hin- und hergerissen, als wollten wir in Frankfurt und Bombay zugleich wohnen, da die Kluft dazwischen einfach zu groß ist. Diese Gegensätze bringen uns zwangsläufig in die Mühle der Selbstverachtung und des Gefühl des Versagens: Wie wir uns drehen und wenden, unsere eigenen Maßstäbe müssen uns in je dem Fall verurteilen. Handeln wir moralisch richtig, schämen wir uns vielleicht, zu brav zu sein; verhalten wir uns so, wie es in unseren Augen auf andere Eindruck macht, fühlen wir uns wiederum schuldig. Mit dieser unerträglichen Spanne zwischen unseren Leitbildern und moralischen Maßstäben legen wir uns selbst unnötigerweise Zwänge auf. Die Bibel führt den Unterschied zwischen Schuld und Scham in der Lösung für beide aus. Die Antwort Gottes auf unser moralisches Problem „Sünde“ ist in der christlichen Glaubenslehre deutlich umrissen worden: Wenn wir unsere Schuld im Bekenntnis und Gebet zum Kreuz bringen und Vertrauen, daß Christus sie tilgen kann, wird uns vergeben. Der Tod Christi genügt juristisch der Gerechtigkeit Gottes, die uns sonst hätte verurteilen müssen. Durch den Empfang des Gnadengeschenkes der Rettung aus Glauben, werden wir in Form eines juristischen Freispruchs vor Gott gerecht. Schwieriger ist es jedoch, Scham und Minderwertigkeitsgefühle anzugehen, da wir die Lösungen aus dem rechtlichen und moralischen Problembereich nicht einfach übertragen können. Vielmehr wird deutlich, daß die Rettungstat Jesu weit mehr als Vergebung umfaßt. Obwohl die Erlösung als juristischer Akt bezeichnet wird, erschöpft sie sich keinesfalls in juristischen Kategorien. Die persönliche Annahme dieses stellvertretenden Werkes Jesu beinhaltet zwar die Vergebung, übersteigt sie jedoch gleichzeitig. Beispielsweise kann ich Ihnen ein Verschulden mir gegenüber vergeben und trotzdem nicht die Bereitschaft haben, sie näher kennen zu lernen und meine Freizeit mit Ihnen zu verbringen. Die biblische Errettung geht jedoch über die durch den rechtlichen Freispruch mögliche Vergebung hinaus, da sie das Werk eines liebenden Vaters ist, der uns in seine Familie «adoptiert». Er liebt uns als seine Kinder und nimmt uns so an, wie wir sind. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11) illustriert dies treffend. Der Vater lief seinem Sohn entgegen, und hieß ihn mit einem Festmahl und einer großen Feier willkommen. Gottes Antwort auf unsere Scham und Minderwertigkeit ist, daß er uns in unserer Unannehmlichkeit und Minderwertigkeit annimmt, wenn wir ihn annehmen. Der Schreiber des Hebräerbriefes betont, daß Jesus sich „nicht schämt, uns Brüder zu nennen“ (Hebr. 2,11). Er schämt sich nicht, uns selbst mit all unserer Sünde und Schande zu seiner Familie zu zählen. Wir hingegen schämen uns oftmals unserer Familienmitglieder: Die Eltern, weil sich ihre Kinder so schlecht in der Öffentlichkeit benehmen, die Kinder, weil … die Eltern viel leicht so altmodisch sind. Aber Jesus freut sich, uns Brüder und Schwestern zu nennen, und mit uns gleich gestellt zu werden. Somit ist die Lösung Gottes für unsere moralischen Vergehen seine Vergebung und für unsere Scham seine Annahme, die er mit dem Versprechen verbindet, eines Tages unsere Schande in Herrlichkeit zu verwandeln. Uns verbleibt die Frage, was mit unseren Leitbildern und Verhaltensmustern geschehen soll. Welche Rolle spielen sie in unseren Wünschen und in unserer Psyche? Unsere Vorstellungswelt muß ebenfalls heil und erlöst werden. Sie ist mit allen möglichen Schablonen angereichert, die dort absolut keinen Platz haben. Ein zweiseitiger Prozeß, der einerseits Neuaufbau und andererseits Abbau umfaßt, ist daher erforderlich. Abgebaut werden müssen unsere falschen Leitbilder und Modelle, die uns oft bewußt oder unbewußt von den Medien oder der Mode aufdiktiert werden. Die Bibel widmet sich umfassend selbsternannter Größe und Heldenhaftigkeit. Mit Humor und Sarkasmus stellt der Herr dies als Bluff und Hochstapelei bloß. Treffend kommt der Spott in den Worten Jesajas zutage: «Weh denen, die Helden sind im Weintrinken und tapfer im Einschenken von berauschendem Getränk» (Jes. 5,22). Auf den Aussagen zum Wesen falschen Heldentums, das seine Schändlichkeit als größte Ehre verkauft, entwickelt die Bibel ihre Lehre von der Narrheit. Ein Tor ist gewöhnlich jener, der meint, er könne die Tugend überlisten und dann seiner eigenen Zerstörung zum Opfer fällt. Er ist dabei der Verlierer überhaupt und die Bibel malt dies voll aus. Vielleicht hat es seinen Grund darin, weil Gott weiß, daß er uns im Bereich unserer Vorstellungswelt ansprechen muß, um unsere Leitbilder und Verhaltensmuster zu hinterfragen und für uns ins Wanken zu bringen. Für den positiven Teil, für den durch die Erlösung begonnenen Neuaufbau, haben Christen das eigentliche, wahrhaftige Leitbild selbst gefunden ”” Jesus Christus, das alle anderen in den Schatten stellt. Jesus Christus ist der «Anfänger und Vollender des Glaubens» (Hebr. 12,2). Die vielen Gebote, ihm nachzufolg
en bzw., ihn nachzuahmen, sind nichts anderes als die Anweisung, ihn zu unserem Verhaltensmuster und Leitbild zu machen. Ihm nachzufolgen bedeutet allerdings nicht, ihm in jeglicher Tat und in allen Umständen gleich zu sein, wie manche die Meinung vertreten, keinen Ehepartner oder kein Haus zu besitzen, sei besonders geistlich. Natürlich kann uns Jesus individuell dazu berufen, dennoch ist ein solches Verhalten nicht allein aus dem Grund gut, weil Jesus es tat. Priorität hat in der Christusnachfolge der Nachvollzug seines Lebensinhalts. In mindestens sechs Bereichen sollen wir seine direkten Nachahmer sein, d.h. Motiv und Art und Weise unseres Handelns sollen Jesus Christus entsprechen: Wir sollen uns untereinander lieben, wie Jesus seine Jünger liebte (Joh. 13, 13-15). Wir sollen einander vergeben, «gleich wie Gott euch in Christus vergeben hat» (Eph. 4,32ff). Wir sollen bereit sein, Unrecht zu erleiden (1.Petr. 2,20). Weil Christus reich war und arm wurde, sollen wir, wenn wir reich werden, bereit sein, zum großzügigen Geben und Teilen (2. Kor. 8,9). Weil Christus sich selbst erniedrigte und Mensch wurde und am Kreuz: für uns starb, können wir uns selbst zurücknehmen und ihm hin geben (Phil. 2, 3-8). Schließlich liegt unsere Größe und Erfüllung im Dienen und nicht im Bedientwerden; denn Jesus kam nicht, um bedient zu werden, sondern um zu dienen, und um sein Leben als Lösegeld für viele zu geben (Mark. 10, 43.45). In der Nachfolge Jesu geht es nicht darum, eine Person nachzuahmen, die uns so fern ist wie eine Statue auf einem Hügel. Derjenige, dessen Verhaltungsmuster wir folgen sollen, ist viel mehr der, der sich nicht schämt, uns Glieder seiner Familie zu nennen. Er ist uns nahe und möchte gemeinsam mit uns den Weg gehen. Christusnachfolge ist kein moralischer Knüppel, unter dem wir uns im Bewußtsein unwiederbringlichen Versagens hin- und herwinden, sondern beinhaltet die Aufforderung, unsere Wunschvorstellungen und Leitbilder neu auf ihn auszurichten. Nach dem wir den gewaltigen Umfang der Vergebung Gottes verstanden haben, heiße es unsere Vorstellungswelt nach diesem einzig wahren und wirkungsvollen Verhaltensmuster auszurichten. Wir haben damit zwar noch kein immer funktionierendes Rezept in der Hand, um alle Scham- und Minderwertigkeitsgefühle loszuwerden. Wir werden je doch, wenn wir Christus als Vorbild haben, vieles, für das sich gar nicht zu schämen lohnt, beiseite lassen können. Mit ihm stehen Verhaltensmuster und Leitbilder zusammen mit unseren moralischen Ansichten im Einklang und nicht mehr im Gegensatz zueinander, denn Christus ist das gelebte Wort Gottes. So. ist es möglich, Scham und Schuld zu gleich für die Dinge zu verspüren, die aufgrund der Bibel tatsächlich und damit vor Gott wirklich schändlich sind. Es bedeutet ebenfalls, daß wir für all unser Versagen die Vergebung Gottes erfahren, die uns durch Jesus Christus geschenkt wird. Denn er «ist der Anfänger und Vollender unseres Glaubens». Dick Keyes Übersetzung Hildegund Beimdicke http://www.factum-magazin.de/wFactum_de/