«Jesus erzählte auf einer Versammlung evangelikaler Verantwortlicher folgendes Gleichnis. Ein Spring Harvest-Redner und ein liberaler Bischof setzten sich und lasen, jeder für sich, die Bibel. Der Spring Harvest-Redner dankte Gott für das wunderbare Geschenk der Heiligen Schrift und gelobte einmal mehr, sie vertrauensvoll öffentlich zu verkündigen. ‘Danke, Gott’, betete er, ‘dass ich nicht so bin wie dieser arme Bischof, der dein Wort nicht glaubt, und der unfähig scheint, sich zu entscheiden, ob Christus nun von den Toten auferstanden ist oder nicht.’ Der Bischof schaute verlegen, als er die Bibel durchblätterte, und sagte: ‘Jungfrauengeburt, Wasser zu Wein, leibliche Auferstehung. Ich weiss ehrlich nicht, ob ich diese Dinge glauben kann, Herr. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass ich glaube, dass du ein personales Wesen bist. Doch ich werde weiter auf der Suche bleiben.’ Ich sage euch, dieser liberale Bischof ging vor Gott gerechtfertigt nach Hause, nicht jener.»
Zeitgemäss gläubig?
Mit dieser Parabel illustrierte Dave Tomlinson 1995 seine Pilgerreise vom evangelikalen zum nach-evangelikalen Glauben. Der Evangelikalismus1 habe ihm geholfen, mit dem Glauben anzufangen. Inzwischen sei er jedoch aus dieser kindlichen und autoritätsgläubigen Frömmigkeit herausgewachsen und definiere seinen Glauben neu. Die Überzeugungen des Spring Harvest-Redners, so Tomlinson, stünden für einen selbstgerechten, biblizistischen und arroganten Glauben an objektive Heilstatsachen, so wie er bei den Evangelikalen verbreitet sei. Der Glaube des Bischofs dagegen sei kritisch, demütig und zweifelnd. Darum könne er sich mit diesem Glauben leichter identifizieren.
Damit steht der Anglikaner Tomlinson stellvertretend für viele Christen, die heute evangelikales Denken und evangelikale Positionierungen entgrenzen und mit postmodernen und liberalen Strömungen versöhnen wollen. Einige von ihnen, zum Beispiel etliche Repräsentanten der Emerging Church2, gehen davon aus, dass die westlichen Gesellschaften in ein postmodernes und nach-christliches Denken3 eingetreten sind und diese Entwicklung von den Kirchen verarbeitet werden müsse, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen. Der inzwischen über 100 Jahre alte Evangelikalismus ist ihrer Meinung nach unauflösbar mit dem Weltbild der Neuzeit verknüpft. Als Neuzeit (zirka 15. Jh. bis Mitte des 20. Jh.) wird dabei ein Zeitalter interpretiert, in dem Kirchen und christlicher Glaube eine dominante Stellung innehatten. Diese Vorherrschaft des Christentums sei jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Eintritt in die Postmoderne verloren gegangen. Das Streben nach Gewissheit, Ordnung, Einheit, Perfektion und Eindeutigkeit seien den Menschen von heute fremd. Deshalb stünden die Gemeinden vor der Herausforderung, die Verkündigung des Evangeliums mit dieser Wirklichkeit auszusöhnen.
Geschichten-Erzählen statt Auslegungspredigt
So bekommt heute vielerorts das Gemeindeleben ein neues Gesicht. Die bibelauslegende und dogmatische Predigt wird durch das Erzählen von Geschichten mit dem Argument verdrängt, dass diese dem postmodernen Menschen zugänglicher seien. Die christliche Unterweisung wird von vernünftigen Verstehens- und Erklärungsbemühungen suspendiert, da man sich dem Evangelium nur auf mystisch-esoterische Weise annähern könne. Und weil die gemeindliche Unterscheidung zwischen einem DRINNEN (Gemeinde) und DRAUSSEN (Welt) trennende Barrieren schaffe, verzichten immer mehr Gemeinden darauf, Christsein für die Menschen von Draussen attraktiv zu machen, um stattdessen ‘in die Welt einzutauchen’.
Authentisch christlich leben
In der Tat sind Christen berufen, ihren Glauben auf einladende und authentische Weise in der Welt zu leben (vgl. Joh. 17,18). Viel zu oft haben bekennende Christen den Glauben privatisiert und das ‘öffentliche Feld’ Andersdenkenden überlassen. Schon Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) warnte vor dem Rückzug aus einem «weltlichen» in einen «geistlichen Raum» und plädierte für das «Einüben des christlichen Lebens» in der ganzen Wirklichkeit Gottes (Ethik, S. 70). Auch der lange Zeit auf St. Chrischona lehrende Dozent für Ethik, Dr. Klaus Bockmühl (1931–1981), sah die problematischen Verwicklungen, die mit der Aufspaltung des Lebens in einen christlichen und einen weltlichen Bereich verbunden sind: «Die grosse Gefahr für die Rettungsboot- oder Rückzugsmentalität besteht […] darin, dass ihre Vertreter fraglos weiter (und oft mit grossem Erfolg) am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Da sie es von aller göttlichen Weisung entleert sehen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nach den ortsüblichen Regeln zu kaufen und zu verkaufen und auf diese Weise um so schlimmer unter die Herrschaft des ‘Fürsten dieser Welt’ zu geraten» (Theologie als Lebensführung, S. 131). Wir dürfen uns also über das neue evangelikale Engagement zum Beispiel in den Bereichen Politik, Armutsbekämpfung, Ökologie oder Kunst freuen. Ebenso ermutigen die aufkommende gesunde Selbstkritik, die Offenheit für den Einsatz kreativer Verkündigungsstile oder die Verknüpfung von Evangelisation und Diakonie.
Unkritische Begeisterung für die Gegenwartskultur
Trotzdem kann die neuerliche Umgestaltung des Glaubens (sie wird von ihren Befürwortern ‘Transformation’ oder‘ zweite Reformation’ genannt) insgesamt nicht überzeugen. Es lässt sich nämlich beobachten, dass bei den Nach-Evangelikalen das Misstrauen gegenüber dem Protestantismus oft mit einer unkritischen Begeisterung für die Gegenwartskultur korrespondiert. Allein der Wunsch, das Christsein kulturrelevant zu leben, bewahrt nicht vor einer Vereinnahmung durch den Geist der Welt (vgl. Eph. 2,2; 1.Kor. 2,12 u. Eph. 6,12). Auch bei einer guten Motivlage kann nämlich der Glaube durch eine unkritische Anpassung an die Gegenwartskultur verfremdet werden.
In der Parabel von Tomlinson steht beispielsweise der zweifelnde Bischof als Vorbild. Interessanterweise bezweifelt der Bischof nicht alles, sondern vor allem das, was in der Bibel steht. Die in seiner Denkkultur verbreitete Auffassung, Wunder wie die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung von den Toten seien unmöglich, hat er bedenkenlos übernommen. So verfremdet Tomlinson nicht nur den neutestamentlichen Glaubensbegriff, er definiert ihn gänzlich neu: Rechtfertigender Glaube ist ein Glaube, der das in Frage stellt, was Gott getan und offenbart hat (vgl. dagegen Hebr. 11).
Verzicht auf Thema ‘Sünde’
Die Vereinnahmung durch den Zeitgeist lässt sich auch am Thema ‘Freiheit’ gut illustrieren. Quer durch verschiedenste gesellschaftliche Strömungen hat sich inzwischen ein nach-christlicher Freiheitsbegriff etabliert. Ihm zufolge gibt es keine vorgegebenen moralischen Werte und der Gesellschaft allein kommt die Aufgabe zu, jeweils geltende Normen festzulegen. Der in diesem Sinne autonome Mensch sei berufen oder verflucht, sich selbst zu sagen, was gut und richtig ist.
Leider übernehmen Christen in vielen Bereichen unkritisch diesen Freiheitsbegriff. So werden leichtfertig das christliche Familienbild oder die christliche Sexualethik hinterfragt. Und weil das biblische Konzept von der Sündhaftigkeit des Menschen im Kontext solch eines Freiheitsverständnisses keinen Sinn mehr macht, verzichtet man bei der Predigt auf das Thema ‘Sünde’ und knüpft ‘kontextualisiert’ nur noch an die spirituelle Bedürftigkeit der Menschen an. Die unbiblische Vorstellung, jeder Mensch müsse seine eigenen Standpunkte für sich finden oder setzen, verdrängt auf diese Weise den neutestamentlichen Freiheitsbegriff. Zwar könnte man meinen, dass sich gerade beim Thema ‘Freiheit’ biblisches Christentum und Humanismus oder Postmodernismus die Hand reichen. Doch offenbaren sich besonders hier tiefe Widersprüche, die der Schweizer Theologe Emil Brunner (1889-1966) einmal sehr eindrücklich aufgedeckt hat: Das ursprüngliche Sein des Menschen ist nämlich kein für sich bestehendes, «sondern es ist ein von-Gott-her-, in-Gott- und auf-Gott-hin-Sein». Die Freiheit des Geschöpfes sei die der Abhängigkeit. Deshalb erfahre ein Mensch, der sich ganz fest an Gott bindet, das Höchstmass seiner Freiheit. Wer sich von Gott entfernt, verliere dagegen seine Freiheit (Gott und sein Rebell, S. 70– 71). Gerade ein Mensch, der sich seine Abhängigkeit von Gott eingesteht und Kraft des Heiligen Geistes im Gehorsam gegenüber den schützenden göttlichen Geboten lebt, ist frei. Die christliche Freiheit ist also eine ganz auf Gott hin ausgerichtete Freiheit.
Weder Hinterweltler noch Säkularisten
Aber muss nicht so ein Leben zwangsläufig in den Rückzug aus der Welt und in die geistliche Enge führen? Nein, muss es nicht. Denn wer weiss, dass er nicht von der Welt ist und sich im Kraftfeld des göttlichen Geistes bewegt, kann mutig und offensiv in der Welt leben (vgl. Joh, 17,14-18). Gerade der Mensch, der den Anspruch vom Zuspruch Gottes kennt und bejaht, ist frei (vgl. Joh. 8,36). Die Bindung an Jesus Christus und seine Gemeinde gibt Festigkeit und befreit zu einem zeugnishaften Lebensstil.
«Wir Christen sind Hinterweltler, oder wir sind Säkularisten», schrieb Dietrich Bonhoeffer 1932 in einer kleinen Gelegenheitsarbeit. «Es sind nun Hinterweltlertum und Säkularismus nur die beiden Seiten derselben Sache – nämlich, dass Gottes Reich nicht geglaubt wird. Weder der glaubt es, der zu ihm aus der Welt flieht, der es dort sucht, wo seine Plage nicht ist, noch der glaubt es, der es als ein Reich der Welt selbst aufrichten zu sollen meint. Wer der Erde entweicht, findet nicht Gott, er findet nur eine andere Welt, seine eigene, bessere, schönere, friedlichere Welt, eine Hinterwelt, aber nie Gottes Welt, die in dieser Welt anbricht.» Seien wir weder Hinterweltler noch Säkularisten, sondern Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben. Schämen wir uns des Evangeliums nicht (vgl. Römer 1,16)!
Zur Vertiefung
Lesen Sie Röm. 12,1-2 in verschiedenen Übersetzungen. Was versteht Paulus unter der ‘Gleichschaltung mit der Welt’, was unter einer ‘Erneuerung des Sinnes’? Können wir etwas dafür tun, damit biblische Konzepte unser Denken und Handeln prägen?
Anmerkungen
1 Der Evangelikalismus (vom Englischen ‘evangelicalism’) ist eine Bewegung innerhalb des Protestantismus, die sich auf die Bibel als zentrale Grundlage christlichen Glaubens beruft und die Bedeutung der persönlichen Gottesbeziehung, der Gemeinde und der Mission hervorhebt. Für eine kurze Einführung siehe: Stephan Holthaus, Die Evangelikalen: Fakten und Perspektiven, Lahr: St. Johannis, 2007.
2 Die ‘Emerging Church’ (engl. ‚to emerge‘: ‚auftauchen‘, ‚sich bilden‘, ‚sichtbar werden‘) ist eine nach-evangelikale Reformbewegung innerhalb konservativer und westlich geprägter christlicher Kreise. Manchmal werden für die Bezeichnung der Emerging Church bedeutungsähnliche Begriffe wie ‘Epic Church’, ‘Missional Church’, ‘Experimental Church’ oder ‘Emgergent Conversation’ verwendet.
3 Zur Postmoderne siehe: Ron Kubsch, Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit, Holzgerlingen: Hänssler, 2007.
Ron Kubsch, Jahrgang 1965, ist nach mehrjähriger missionarischer Auslandstätigkeit seit 2002 als Dozent für Apologetik und Neuere Theologiegeschichte am Martin Bucer Seminar (Bonn, Deutschland) tätig. Zusammen mit seiner Frau Dorothea hat er drei Kinder im Alter von 16, 14 und 8 Jahren.
RON KUBSCH Dieser Artikel erschien im Chrischona-Panorama 4-2008 auf den Seiten 8-10
http://panorama.chrischona.org/cms/panorama/de/ausgabe0408/ma/heft/1,100010,44272.html