Von der „Neuen Paulus-Perspektive“(NPP) wird gesagt, dass sie nicht wirklich „neu“ sei. Aber sie ist auch nicht nur eine „Perspektive“, scheint sie uns doch einen völlig anderen Menschen vorzustellen als den Apostel Paulus, wie ihn die meisten von uns kennen werden. Die Diskussion unter den Gelehrten reicht mindestens zurück bis zu E. P.Sanders Buch Paul and Palestinian Judaism (1977)1 oder vielleicht sogar bis zu Krister Stendahls Artikel von1961 „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West“(dt.: Der Apostel Paulus und das introspektive [in sich selbst hineinhörende]Gewissen des Westens). Diese Arbeiten sind weit davon entfernt, nur eine „Perspektive“ zu sein, haben sie doch eine theologische Denkweise in Gang gesetzt, die das Verständnis der Religion des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels völlig umgestaltet hat, sowie auch das Verhältnis des Paulus zu diesem Judentum und das Verständnis (besser gesagt, ihr vermeintliches Missverständnis), das die Reformatoren von Paulus hatten. Hier geht es also nicht nur um eine andere „Perspektive“, sondern um einen radikalen Paradigmenwechsel.
Die NPP lässt sich nicht auf ein paar Kernsätze reduzieren, aber wir wollen – trotz der Gefahr der zu starken Vereinfachung – versuchen, die wesentlichen Gedanken kurz zusammenzufassen und dabei auf den einen oder anderen ihrer Hauptvertreter verweisen. In gewissem Sinn begann die NPP 1977 mit der Veröffentlichung von E. P. Sanders Buch Paul and Palestinian Judaism. Sanders Studium des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels ließ ihn zu der Schlussfolgerung kommen, dass es sich dabei nicht um eine legalistische oder pelagianische „Errettung-durch-Werke“-Religion handelte (und wenn doch, dann hatte Paulus unrecht!). Vielmehr sei die Grundlage des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels das, was er „Bundesnomismus“ nannte. Das heißt, dass die Stellung des Einzelnen vor Gott keine Sache der Werke (im Gegensatz zum Glauben) war, sondern dass sie auf dem Bündnis gründete. Von dem einzelnen Juden, als Mensch im Bündnis, wurde erwartete, dass er dem Gesetz (nomos) gehorsam war, und das als Ausdruck seiner Teilhabe am Bundesvolk. Es war keine Frage der „Rechtfertigung“ oder „Errettung“ (wie wir es sehen würden), sondern der Bündnisidentität. Anders gesagt, die Juden waren nicht so sehr daran interessiert, wer in den Himmel kommt oder nicht, sondern wer im Bund ist und wer nicht. Die „Gesetzeswerke“ waren keine Werke, durch die man etwas verdiente (und noch viel weniger solche, durch die man etwas verlieren konnte, wie Paulus argumentiert), sondern lediglich „völkische Grenzsteine“, die angaben, wer das Bundesvolk war (und diejenigen ausschlossen, die nicht zum Bundesvolk gehörten). Sanders behauptet, das wirkliche Problem des Paulus sei gewesen, dass das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels einfach kein Christentum war (Paul and Palestinian Judaism, S. 552). James D. G. Dunn, der die Bezeichnung „New Perspective on Paul“ (dt. „Neue Paulusperspektive“ oder „Neue Perspektive auf Paulus“) prägte, nimmt diese Sichtweise als Ausgangspunkt für seine Bücher wie z. B. Jesus, Paul and the Law: Studies in Mark and Galatians (John Knox Press, 1990) und Romans (Word, 1988). Dunn behauptet, dass die „Gesetzeswerke“ weder von den Juden noch von Paulus als ein Mittel verstanden wurden, wodurch man vor Gott gerecht (gerechtfertigt) wird. Die Juden sahen die Gesetzeswerke vielmehr als ein „Abzeichen“, welches das Volk Gottes von denen unterschied, die außerhalb des Bundes standen. Dunns Ausführungen zufolge war es dieser Gebrauch des Gesetzes zum Ausschluss der Heiden, den Paulus in seinem theologischen Fadenkreuz hatte. Dunn glaubt, dass die „Gesetzeswerke“ nicht dazu herangezogen werden können, um durch sie die Heiden von der Gnade Gottes auszuschließen, und dass aus Paulus’ Sicht „die Gesetzeswerke für die Juden ganz in Ordnung waren“. Damit besagt Dunn, dass Paulus den Gegensatz zwischen Errettung durch Werke und Errettung durch Glauben, wie ihn die Reformatoren des 16. Jahrhunderts deutlich machten, nicht verstanden haben würde. Dunn erklärt, dass „Paulus vorrangig auf den Exklusivismus reagierte, für dessen Aufrechterhaltung er früher so gekämpft hatte“ („Paul’s Theology“ in The Face of New Testament Studies, S. 336). Vereinfacht ausgedrückt sagt Dunn, dass es Martin Luther war, der in seinem Kampf gegen den Legalismus der römisch-katholischen Kirche ein falsches Verständnis von Paulus hatte. Als Luther lehrte, Paulus sei gegen „gute Werke“ als ein Mittel der Rechtfertigung gewesen, habe er laut Dunn seinen eigenen Kampf, den er im 16. Jahrhundert gegen die römisch-katholische Kirche führte, Paulus in seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum des 1. Jahrhunderts auferlegt. N. T. Wright stimmt im Wesentlichen mit diesen Ansichten überein und hat in seinem Buch What Saint Paul Really Said (Eerdmans, 1997) die sich aus dieser Sichtweise ergebenden Auswirkungen deutlich dargestellt. Auch nach Wright war das Problem, das Paulus mit dem Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels hatte, nicht „Legalismus“ oder „Werkgerechtigkeit“. Die Frage war nicht, wer in den Himmel kam und wer nicht (S. 32ff.). Paulus hatte kein „beschwertes Gewissen“ und hatte kein Problem damit, wenn jemand „Gerechtigkeit durch das Gesetz“ erstrebte. Für die Juden sei das in Ordnung gewesen. Wir lesen zum Beispiel, wie Paulus sich in seinem „selbstzufriedenen“ aber nicht gerechtfertigten Denken vor seiner Bekehrung beschreibt – ein Denken, das auf den Kopf gestellt wurde, als er zum Glauben an Christus kam. Die NPP liest diese Verse nun wie folgt: „Seht doch nur: Für Paulus war es ganz in Ordnung, wenn er oder die Juden im Allgemeinen nach dem Gesetz lebten!“ Das Problem war, so Wright, dass er in seinem Denken die Heiden ausschloss und sie davon abhielt, Jesus als König anzuerkennen (was das „Evangelium“ nach Wright wäre). Wenn man das verstehen will, muss man zunächst verstehen, welche Sicht Wright vom Evangelium hat.
Wrights Verständnis vom Evangelium des Paulus
Wright sagt ganz deutlich, dass das Evangelium NICHT „eine Beschreibung dessen ist, wie man errettet werden kann“ (WSPRS, S. 40f). Er hat kein Problem damit, wenn es Menschen gibt, die so reden. Er behauptet jedoch, das sei es nicht, was Paulus wirklich meinte. Er schreibt: „Es [das Evangelium] ist also keine Methode der Errettung. Allein die Bekanntmachung des Evangeliums führt dazu, dass Menschen errettet werden … Vereinfacht ausgedrückt geht es bei „Errettung“ für Wright nicht darum, dass ein Mensch von der Schuld, Macht und Strafe der Sünde befreit wird, und bei „Rechtfertigung“ geht es, was das betrifft, nicht um den rechten Stand des Menschen vor Gott. Luther und die Reformatoren des 16. Jahrhunderts sollen diese ihre Vorstellungen den Schriften des Apostel Paulus aufgezwängt haben (WSPRS, S. 113ff). Wright behauptet, für einen Juden des 1. Jahrhunderts habe Errettung bedeutet, dass Gott das ganze Volk Israel insgesamt und auf einmal von der Unterdrückung der Heiden befreien würde. „Der einzelne Jude fand seine ‚Errettung’ in seiner Zugehörigkeit zu Israel, d. h. zu dem Bündnis. Die Zugehörigkeit zum Bündnis in der Gegenwart war (mehr oder weniger) die Garantie für die ‚Errettung’ in der Zukunft“ (The New Testament and the People of God, S. 334). Kurz gesagt, „errettet“ sein bedeutet, „in der Gemeinschaft“ erfunden zu werden, wenn Gott in dem letzten Ereignis der Zukunft seinem Volk Recht spricht. Für Wright ist also das Evangelium die Botschaft, dass in dem König Jesus (gekreuzigt, auferstanden und Sieger über die Mächte des Bösen) die endgültige Rechtfertigung Gottes und die Errettung des Bundesvolkes schon geschehen ist. Nur ist es so, dass man heute nicht mit jüdischen Mitteln (Beschneidung, Halten der Thora usw.) in die „Bundesgemeinschaft“ hineinkommen kann, sondern durch den Glauben an Jesus. Und das bedeutet, dass diese Gemeinschaft für Juden und für Heiden und für alle die ist, die Jesus „Herr“ nennen (siehe WSPRS, S. 44; S. 55ff.).
Wrights Verständnis der Rechtfertigung
Nach Wright ist Rechtfertigung nicht einfach das Mittel, wodurch ein Mensch mit Gott ins Reine kommt, sondern vielmehr ein Zeichen derer, die schon mit Gott im Reinen sind. Er bemerkt: „Die Lehre der Rechtfertigung ist nicht das, was Paulus unter dem ‚Evangelium’ versteht. Es ist im Evangelium inbegriffen; wenn es verkündigt wird, kommen Menschen zum Glauben und werden dadurch von Gott als zu seinem Volk zugehörig betrachtet. Aber das ‚Evangelium’ hat nicht zum Inhalt, wie Menschen errettet werden. Es ist … die Verkündigung der Herrschaft Jesu Christi … Eins muss klar sein: Das ‚Evangelium’ ist die Bekanntmachung der Herrschaft Jesu, die mit Macht bewirkt, dass Menschen in die Familie Abrahams eingeführt werden, die jetzt neu als um Jesus herum definiert wird und allein durch Glauben an ihn gekennzeichnet ist. ‚Rechtfertigung’ ist die Lehre, die darauf besteht, dass alle, die diesen Glauben haben, als vollwertige Mitglieder zu dieser Familie gehören – auf dieser Grundlage und auf keiner anderen“ (WSPRS, S. 132f). Phil Johnson schreibt: „Die NPP behauptet, dass der traditionelle Protestantismus das ernsthaft durcheinander bringt und verzerrt, was der Apostel Paulus über Rechtfertigung aus Glauben gelehrt hat. Der NPP nach zu urteilen ging es Paulus, als er über Rechtfertigung schrieb, um das gemeinschaftliche, nationale, rassische und soziale Moment – und nicht um das individuelle und sein persönliches Heil betreffende. Ihrer Auffassung nach hat die Lehre der Rechtfertigung, wie der Apostel Paulus sie lehrte, sehr wenig mit der persönlichen und individuellen Rettung von Sünde und Schuld zu tun. Sie sagen, die Frage der Rechtfertigung betreffe nicht wirklich die Soteriologie (Lehre von der Errettung). Sie gehöre vielmehr in den Bereich der Ekklesiologie (Lehre von der Gemeinde). Um Wright noch einmal zu zitieren: ‚Was Paulus unter Rechtfertigung versteht … ist nicht, wie man Christ wird, sondern wie man sagen kann, ob jemand Mitglied der Bündnisfamilie ist’“ (S. 122).2 (2 Phil Johnson, http://www.swordandtrowel.org/ articles/old_perspective_on_paul.pdf; Zugriff 29.07.2007)
Es sollte nun deutlich geworden sein, dass durch diese Auffassung von „Rechtfertigung“ im Grunde jede Vorstellung von der Notwendigkeit der uns zugerechneten Gerechtigkeit Christi ausgeschaltet wird. Das wiederum bedeutet, dass das stellvertretende Sühnungswerk Christi für die Strafe der Sünde (also dass Christus am Kreuz gestorben ist und für unsere Sünden bezahlt hat) entweder hinterfragt oder unumwunden geleugnet wird.
Schlussfolgerung
Diese kurze Zusammenfassung hat nur die Oberfläche der sehr breit geführten Diskussion über Rechtfertigung und die NPP berührt. Hoffentlich hat sie aber deutlich gemacht, dass die NPP klar und deutlich angesprochen werden muss. Dr. Kevin Zuber http://www.kfg.org/archiv/zeitschrift/95.html“http://www.kfg.org/archiv/zeitschrift/95.html