(ARTIKEL AUS DER ZEITSCHRIFT DER RUSSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN)1
Auch Rußland zählt zu den Unterzeichnern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedet hat. Darin wird festgestellt, daß alle Menschen die gleiche Würde haben (Artikel 1) und jede Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion und politischer Überzeugung verboten ist (Art 2). Jeder hat das Recht auf Leben und Freiheit (Art 3), weswegen Sklaverei und Sklavenhandel (Art 4) ebenso wie die Folter (Art 5) verboten sind. Jeder hat das Menschenrecht auf die Gleichheit vor Gesetz und Richter und darf nur aufgrund von vorher erlassenen Gesetzen und nachdem er gehört worden ist, von Gerichten verurteilt werden (Art 7-11). Jeder hat das Recht auszuwandern und seinen Wohnort frei zu wählen (Art 13) oder in einem anderen Land um Asyl zu bitten (Art 14). Jeder ist in der Wahl seines Ehepartners frei und die Familie ist als „natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft“ durch Staat und Gesellschaft zu schützen (Art 16+26). Es folgen das Recht auf Eigentum (Art 17), das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, weswegen er auch seine Religion wechseln darf (Art 18), genießt Meinungs- und Informationsfreiheit (Art 19), Versammlungs- und Vereinsfreiheit (Art 20) und nimmt am allgemeinen Wahlrecht teil (Art 21). Jeder hat Anspruch auf soziale Sicherheit (Art 22+25+28), Arbeit mit gerechter Bezahlung (Art 23) und Bildung (Art 26). Dem Gedanken der Menschenrechten liegt der Anspruch zugrunde, daß alle Menschen das gleiche Recht darauf haben, als Person behandelt zu werden – ungeachtet ihrer Unterschiede in Rasse, Religion, Geschlecht, Politik oder sozialem und ökonomischen Status. Doch worin ist die Gleichheit der Menschen begründet, wenn nicht darin, daß Gott sie alle gleichermaßen geschaffen hat? Deswegen beginnt jede christliche Begründung der Menschenrechte mit dem Schöpfungsbericht in den ersten beiden Kapiteln der Bibel, in denen es heißt: „Und Gott sprach: Laßt uns Menschen in unserm Bild machen, uns ähnlich! Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie“ (1Mose 1,26-27). Daß der Mensch Ebenbild Gottes ist, spielt eine wesentliche Rolle für den Umgang der Menschen miteinander. So soll nach 1Mose 9,6 Mord bestraft werden, weil damit ein Ebenbild Gottes angetastet wurde: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden, denn nach dem Bilde Gottes hat Gott den Menschen gemacht“. Die ganze Schöpfung besteht zur Ehre Gottes und hat von Gott her ihren Sinn erhalten. Was für die ganze Schöpfung allgemein gilt, gilt erst recht für die ‚Krone der Schöpfung‘, den Menschen. Er wurde unter den Schöpfungsordnungen Gottes und damit zu einem Gott wohlgefälligen Zweck geschaffen. Gott hat den Menschen zum Beherrscher der Erde gemacht, aber ihm auch die Verantwortung für die Bewahrung der irdischen Schöpfung gegeben. So schreibt der Psalmist über den Menschen: „Denn du hast ihn [= den Menschen] nur wenig niedriger als die Engel gemacht, mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn gekrönt. Du machst ihn zum Herrscher über die Werke deiner Hände, alles hast du unter seine Füße gestellt“ (Ps 8,6-7). Deswegen geht es bei den Menschenrechten immer nur um solche Rechte, die Gott dem Menschen als seinem Geschöpf verleiht, nie um Rechte, die der Mensch sich selbst zuschreibt oder anmaßt. Christen dürfen deswegen den Menschenrechtskatalog der westlichen Länder nicht automatisch mit der Bibel gleichsetzen. So läßt sich zum Beispiel aus der Bibel das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren mit klar vorgegebenen Gesetzen, Zeugenbefragung, unbestechlichen Richtern und eigener Verteidigungsmöglichkeit ableiten, wie wir noch sehen werden. Aber ein solches ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren kann ja nicht automatisch mit der Gerichtsbarkeit westlicher gleichgesetzt werden. Und wenn ja, mit welchem Rechtssystem sollte er dann gleichgesetzt werden? Dem deutschen, dem englischen, dem französischen oder dem amerikanischen? Weiß nicht jeder, wie stark sich schon diese voneinander unterscheiden? Es ist Raum, daß jedes Volk der Erde das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, das sicher zu den Menschenrechten gehört, gemäß seiner eigenen kulturellen und geschichtlichen Traditionen ausgestaltet.
Die christlichen Wurzeln der Menschenrechte
Daß die Menschenrechte als Schutzrechte christliche Wurzeln haben, ist unbestritten. Wer die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 liest, wird nicht umhin kommen, die christlichen Wurzeln festzustellen. Das Verbot der Piraterie, von Sklaverei und Folter, der Schutz der Kriegsoper (Rotes Kreuz), die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Recht auf Erholung und Freizeit – man denke an den Sabbat bzw. Sonntag – entstammen der christlichen Tradition, und es ist nicht zufällig, daß es weitgehend ehemals christliche Staaten sind, in denen diese Menschenrechte auf Zustimmung stoßen und im staatlichen Gesetz verankert wurden. Dies hat sogar Karl Marx anerkannt, denn er lehnte die Menschenrechte als Produkt des Christentums ab (z. B. Marx Engels Werke, Bd. 1. S. 362ff). Ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen, notwendig ‚metaphysisch‘ begründeten Wertüberzeugungen ist kein Staat, keine Rechtsordnung dauerhaft zu begründen und zu erhalten. Die Rechtsordnung setzt eine Wertordnung notwendig voraus. Das Recht beruht auf vor- und außerrechtlichen Wertmaßstäben, wie alles im menschlichen Leben. Die Menschenwürdegarantie geht davon aus, daß der Mensch mehr ist, als er von sich weiß. Er kann mit den Mitteln der rationalen Wissenschaft nicht voll erfaßt werden, er ist metaphysisch offen. Der moderne Staat lebt mit seinem Recht von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.
Aufklärung oder Vergebung und Umkehr?
Im Denken der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die die Menschenrechte ohne Gott und gegen die Kirche begründen wollte, ergab sich alles Gute und damit auch die Menschenrechte rein aus Natur und Vernunft. Die Rousseausche Gleichsetzung von ‚Vernunft‘ und ‚Natur‘ ist dem ganzen Denken der Aufklärungszeit eigentümlich. Der Versuch, die Menschenrechte aus der Natur zu begründen, darf jedoch als gescheitert gelten, da sich niemand einigen kann, was mit Natur gemeint ist und wie die Natur sich kundtut. Deswegen schreibt der Strafrechtsprofessor Wolfgang Schild: „Die Aufklärung kann und darf deshalb nicht das letzte Wort, unser letztes sein. Ihre Rationalität und Funktionalität müssen an die Grenze geführt werden, weil sonst menschenwürdiges Zusammenleben nicht möglich ist. Auch und gerade das Strafrecht kann sich nicht auf die mit rationalen Mitteln zu erreichenden Zwecke der Herstellung von Ruhe und Ordnung um jeden Preis beschränken: es braucht die Menschenwürde auch des Straftäters als Fundament und zugleich als Grenze.“ Der Gedanke, daß man den Menschen durch Bildung verbessern und die Übel der Menschheit durch intellektuelle Aufklärung beseitigen könne, ist eines der Grundprobleme der griechischen Philosophie, des Humanismus und der Aufklärung. Das humanistische Bildungsideal verdankt seine Existenz der Idee der Hebung der Sitten durch Bildung. Dahinter steht der Gedanke, daß der Mensch nur deswegen falsch handelt, weil er unwissend ist oder falsch denkt, nicht aber, weil sein Wille böse ist und er unfähig ist, das Gute aus eigener Kraft zu tun. Man will die ethische und verantwortliche Seite aller Gedanken, Worte und Taten auf eine Wissensfrage reduzieren, die den Menschen bestenfalls dann verantwortlich macht, wenn er Bescheid wußte. Immer wieder sind deswegen Menschen erstaunt, wenn sie zum Beispiel hören, daß Ärzte genauso viel rauchen wie Laien, daß sich trotz aller Aufklärung immer noch so viele Menschen ungesund leben und Frauen trotz aller Informationsmöglichkeiten über Verhütungsmittel ungewollt schwanger werden. Dabei kann jeder an sich selbst beobachten, daß das Richtige zu wissen, ja selbst davon felsenfest überzeugt zu sein, noch überhaupt nichts mit der Frage zu tun hat, ob man auch dementsprechend lebt. Ein Politiker, der im Parlament die lebenslängliche Einehe als Grundlage der Gesellschaft rühmt, tritt deswegen noch lange nicht für die eheliche Treue in seinem Privatleben ein und ist noch lange nicht vor Ehebruch und Scheidung gefeit. Die Bibel lehrt demgegenüber, daß die Sünde des Menschen nicht nur sein Denken, sondern sein ganzes Wesen erfaßt und es vor allem sein gegen Gott gerichteter Wille ist, der den Menschen falsch handeln, aber auch falsch denken läßt. Deswegen ist es nicht damit getan, daß der Mensch mehr nachdenkt. Er muß zunächst sein altes belastetes Leben bereinigen. Christen glauben, daß Gott selbst an Stelle der Menschen für die Lieblosigkeit und den Egoismus der Menschen gestorben ist, indem Jesus Christus für die Menschen am Kreuz starb. Wer anerkennt, daß er sich nicht aus eigener Kraft und nicht durch seine eigene Vernunft erretten kann, aber darauf vertraut, daß Jesus die Strafe für ihn bereits getragen hat, wird aus diesem Glauben an Jesus heraus auch seinen bösen Willen überwinden und auf Gott ausrichten und von dort her auch sein Denken erneuern (Röm 1,20-23+25; 12,1-3). Ware Veränderung geschieht durch Gottes Kraft von innen heraus, nicht durch Aufklärungskampagnen, sondern durch die Liebe und Vergebung Gottes.
Die Menschenrechte gehen dem Staat voraus
Menschenwürde und Menschenrechte sind im Wesen des Menschen als Geschöpf Gottes begründet. Der Staat schafft die Menschenrechte deswegen nicht, sondern er formuliert und schützt sie nur. Das Recht auf Leben hat der Mensch also beispielsweise an sich. Er erhält das Lebensrecht nicht erst durch den Staat. Und der Staat kann nicht einfach beschließen, daß seine Bürger kein Recht auf Leben mehr haben, sondern beliebig umgebracht werden dürfen. Auch das Recht, eine Familie zu führen, wird nicht vom Staat verliehen. Die Familie gehört nicht dem Staat, sondern der Staat anerkennt, daß er die vorgegebene Schöpfungsordnung von Ehe und Familie schützen muß. Es gibt also vor- und überstaatliche Rechte, die sich aus der Natur und dem Wesen des Menschen und der verschiedenen menschlichen Lebensgemeinschaften ergeben, die der Staat zu respektieren hat. Jede Staatsgewalt findet ihre Begrenzung an diesen natürlichen, gottgewollten Rechten des Einzelnen, der Familien, der Arbeitsbeziehungen und anderer Gemeinschaftsformen. Wenn Menschenrechte in einem dem Staat vorgegebenen Sittengesetz wurzeln, so schränkt gerade auch dies Sittengesetz eine falsche Ausuferung der Menschenrechte ein, und zwar zugunsten der Menschenwürde anderer. Keiner hat beispielsweise das Recht, seiner Persönlichkeitsentfaltung durch Mord oder Brandstiftung Ausdruck zu verleihen. Die Menschenrechte setzen immer einen Staat mit beschränkter Macht und ein für alle Menschen gültiges Gesetz, das die Macht beschränkt, voraus. Wäre dies nicht der Fall, so würde der Mensch seine Rechte erst durch den Staat erhalten. Jeder Mensch hätte dann nur die Rechte und den Anspruch auf Schutz, den ihm der jeweilige Staat zugestehen würde. Das war die Sicht der sozialistischen Staaten. Hier kann der Staat nicht mehr aufgrund einer höheren Ordnung kritisiert und korrigiert werden, sondern ist sich selbst Gott geworden.
Die Bedeutung von Römer 13
Der wichtigste biblische Text über die Bedeutung des Staates findet sich im 13. Kapitel des Römerbriefes des Apostels Paulus, des Mannes, der das Christentum im 1. Jahrhundert nach Europa und Asien brachte: „Jede Seele ordne sich den übergeordneten Staatsgewalten unter. Denn es ist keine Staatsgewalt vorhanden, wenn sie nicht von Gott kommt, und die existierenden sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der Staatsgewalt widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil für sich empfangen. Denn die Regierenden sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du dich aber vor der Staatsgewalt nicht fürchten müssen? Tue das Gute, und du wirst Lob von ihr erhalten, denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, dann fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst, denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe [oder: zum Zorn] für den, der das Böse tut. Darum ist es notwendig, untertan zu sein, nicht nur wegen der Strafe [oder: des Zorns], sondern auch wegen des Gewissens. Denn deshalb zahlt ihr auch Steuern; denn sie sind Gottes Diener, die eben hierauf ständig bedacht sind. Gebt allen, wozu ihr verpflichtet seid: die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre gebührt“ (Röm 13,1-7). Aufgrund dieses Textes ist es klar, daß sich niemand, der sich grundsätzlich gegen den Staat wendet, auf Gottes Auftrag berufen kann. Im Gegenteil: er stellt sich damit gegen Gottes Anordnung und wird deswegen zu Recht dem Gericht verfallen (Röm 13,2). Da der Staat die Aufgabe hat, das Böse einzudämmen und zu bestrafen, muß der Christ das Gute tun, wenn er den Konflikt meiden will. Tut der Christ aber das Böse, so wird er zu Recht vom Staat bestraft, ja, der Staat hat den Auftrag, als Gottes Dienerin Rache zu üben (Röm 13,4). Dies hat natürlich zur Folge, daß der Christ seine Steuern und Abgaben bezahlt und den Amtsträgern mit Ehrerbietung begegnet (Röm 13,6-7). Entscheidend ist nun aber, wer denn definiert, was das Gute und was das Böse ist. Dachte der Apostel Paulus daran, daß dies Sache des Staates selbst ist. Kann der Staat also so ziemlich alles zum Guten erklären und dann von seinen Bürgern fordern? Nein, Paulus dachte natürlich an das Gute im Sinne des Willen Gottes und an das Böse als das, was Gottes Gesetz verurteilt. „Gerechtigkeit erhöht eine Nation, aber die Sünde ist das Verderben der Völker“ (Spr 14,34). So gibt es etwa in der Bibel klare Vorgaben für das Ausüben des Steuer-, Militär- und Polizeiamtes. So sagte Jesus etwa zu Steuerinspektoren und Polizisten (damals gehörten Armee und Polizei zusammen): „Es kamen aber auch Zöllner, um getauft zu werden. Und sie sagten zu ihm [= Johannes den Täufer]: Lehrer, was sollen wir tun? Er aber sagte zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch bestimmt ist. Es fragten ihn aber Kriegsleute und sagten: ‚Und was sollen wir tun?‘ Er sprach aber zu ihnen: ‚Tut niemand Gewalt an, erpreßt niemanden und begnügt euch mit eurem Sold.“ (Lk 3,12-14) Zwei wesentliche Dinge sind nun aus dem paulinischen Text über den Staat (Röm 13,1-7) abzuleiten.
1. Der Apostel Paulus sagt, daß sich die Obrigkeit mit den ‚Werken‘, also mit dem, was ein Mensch tut, nicht mit dem, was ein Mensch denkt, beschäftigen soll. Es geht um die guten und bösen „Werke“ (Röm 13,3), also um das „Tun“. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, sich mit allen Sünden zu beschäftigen, sondern nur mit solchen Sünden, deren Handlung festgestellt werden kann und die die öffentliche Ordnung verletzen, für deren Erhaltung und Verteidigung die Obrigkeit eingesetzt wurde. Der Staat hat nicht das böse Denken der Menschen zu bestrafen, sondern ihr böses Handeln. So hat der Staat etwa vor Gericht nicht über das Denken oder die Motive, sondern über die konkreten Taten zu Gericht zu sitzen, sondern über die beweisbare Tat. Der Staat hat nicht das innerste Gewissen der Menschen zu knechten, sondern für ein friedliches Zusammenleben zu sorgen. Dementsprechend kann der Staat auch niemandem vorschreiben, was ein Mensch zu glauben hat. Welcher Glaube einen Menschen im innersten bewegt, ist für den Staat unwichtig. Wichtig für ihn ist alleine das Handeln der Menschen. Deswegen kann der Staat auch seine Bürger nicht zwingen, eine bestimmte Religion anzunehmen, denn dies ist eine Sache des Herzens und der unsichtbaren Welt.
2. Nach Paulus hat der Staat keinen Unterschied zwischen Christen und anderen Menschen zu machen, also keinen Unterschied zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen zu machen, solange diese friedlich ihrem Glauben nachgehen. Wenn es kein Ansehen der Person gibt, müssen die Verbrechen und Vergehen von Christen ebenso gerecht und unerbittlich bestraft werden und muß das Gute, das Christen tun, ebenso gefördert werden, wie das böse und gute Tun von Anhängern anderer Religionen. Der Staat hat schon deswegen keinen Unterschied zwischen Christen und anderen zu machen, weil er eben nur die „Werke“, also das „Tun“ der Menschen beurteilen soll. Die Menschenrechte sind Schutzrechte, das heißt es geht weniger um Dinge, die einem Menschen zustehen, als um Beschränkungen des Staates und anderer Institutionen, in das Leben des einzelnen einzugreifen. Deswegen ist es wichtig, daß gerade bei Paulus der Staat auf bestimmte Aufgaben beschränkt wird und nicht die Aufgabe, das gesamte Leben und Denken der Menschen zu reglementieren und durch Strafe zu bedrohen.
Der Staat darf nämlich nicht mit der Gesellschaft als ganzer gleichgesetzt werden oder mit der Gesellschaft verwechselt werden, wie dies die sozialistische Staatsauffassung seit der französischen Revolution tut, die restlos alle Bereiche der Gesellschaft einschließlich Familie oder Kirche dem Staat unterstellen will. Die Gesellschaft umfaßt wesentlich mehr als den Staat, und dem Staat unterstehen nicht alle Bereiche der Gesellschaft.
Zur Trennung von Kirche und Staat
Der Staat hat nicht unter der Herrschaft einer Kirche oder Religion zu stehen, so wie umgekehrt der Staat nicht eine Kirche oder Religion beherrschen darf. Die Trennung von Kirche und Staat widerspricht dem christlichen Glauben nicht, sondern ergibt sich natürlich aus ihm. Denn die biblsiche Aufgabe des Staates ist es, ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, gleich was diese Menschen glauben, die Aufgabe der Kirche und der Religion ist es, auf die Ewigkeit hinzuweisen, den Menschen Halt zu geben und die Beziehung zu Gott zu fördern. Der Historiker Eugen Ewig spricht deswegen von der schon alttestamentlich begründeten Zweigewaltenlehre und der Historiker Eduard Eichmann schreibt über die alttestamentliche Gewaltenteilung in Hohepriester und König: „Mit den heiligen Schriften sind diese alttestamentlichen Vorstellungen Gemeingut des christlichen Abendlandes geworden.“ Die Trennung von Kirche und Staat kommt in dem berühmten Wort Jesu: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17) klar zum Ausdruck. Diese Forderung geht aber von Gott aus, so daß also Gottes Anordnung auch über dem Kaiser steht, auch wenn die religiöse Institution Gottes auf Erden, das organisierte Volk Gottes, deswegen gerade nicht über dem Kaiser steht. Der Gehorsam gegenüber Gott geht allem anderen voran. Er bestimmt und begrenzt das, was des Kaisers ist. Nicht der Kaiser bestimmt, was Gottes ist, sondern Gott. Das bedeutet aber nicht, daß der ‚Kaiser‘ von der Kirche abhängig ist. In Gottes Auftrag dient er allen Menschen seines Landes, nicht nur den Anhängern einer bestimmten Religion. Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet nicht, daß es keine Überschneidungen gäbe oder die beiden Institutionen sich gegenseitig nicht nötig hätten. Genau das Gegenteil ist der Fall. So kann die Kirche den Staat durchaus das Gesetz lehren und ihn beraten, wie es etwa bei König Joasch der Fall war: „Und Joasch tat alle seine Tage, was in den Augen des Herrn recht war, weil der Priester Jojada ihn unterwies“ (2Kön 12,3). Wie schade, daß die Kirche dieses kritische Amt oft so wenig wahrnimmt und lieber mit den Wölfen heult. Aber erst wenn der Staat sich nicht mehr den Geboten Gottes verpflichtet weiß und den Glauben anfängt zu bekämpfen, wird aus der Trennung von Kirche und Staat ein Kampf des Staates gegen das Christentum.
Es gibt kein Ansehen der Person vor Gott
Das Menschenrecht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren findet sich schon seit Jahrtausenden im Alten und Neuen Testament. Um entscheiden zu können, was Recht ist, bedarf es eines gerechten Richters. Gott aber ist der gerechte Richter schlechthin (z. B. 5Mose 10,17-18; Ps 7,9+12; 9,5; 50,6; vgl. Ps 75,3+8), „denn der HErr ist ein Gott des Rechts“ (Jes 30,18). „Er ist der Beschützer des Rechtes“. Wer immer gerechtes Recht spricht, handelt im Auftrag Gottes. So heißt es im Alten Testament von einem gerechten König: „Joschafat sprach zu den Richtern: Achtet auf das, was ihr tut! Denn ihr haltet nicht im Namen von Menschen Gericht, sondern im Namen des Herrn, und er ist bei euch, wenn ihr Recht sprecht. Darum laßt die Furcht des HErrn bei euch sein, haltet und tut das Recht, denn bei dem Herrn, unserm Gott, ist kein Unrecht, weder Ansehen der Person noch Annehmen von Geschenken“ (2Chr 19,6-7). Der Richter muß sich im klaren darüber sein, daß Gott ihn überwacht und auf der Seite des Unschuldigen steht: „Wenn man das Recht eines Mannes vor dem Angesicht des Höchsten beugt, wenn man einen Menschen in seinem Rechtsstreit irreführt, sollte der Herr das nicht sehen?“ (Klgl 3,35-36). Dementsprechend kennt die Bibel viele Anweisungen für ein menschenwürdiges und gerechtes Gerichtsverfahren. Für die Anklage waren zum Beispiele „zwei oder drei Zeugen“ (z. B. 4Mose 35,30; 5Mose 17,6; 19,15; Mt 18,16; Joh 8,17; Hebr 10,28; 1Tim 5,19) notwendig, damit die Anklage „aus zweier oder dreier Zeuge Mund“ (5Mose 17,6) kommt. Abzuweisen sind „gewalttätige Zeugen“ (Ps 35,11). Im Urteil sollte „kein Ansehen der Person“ (5Mose 1,17; 2Chr 19,7; Spr 18,5; 24,23; Hiob 13,10; Kol 3,25; Eph 6,9) gelten, denn auch Gott selbst kennt kein Ansehen der Person (z. B. 5Mose 10,17-18). Nur böse Richter „sehen die Person an“ (Jes 3,9). Das Urteil sollte auch „ohne Vorteil“ oder „vorurteilsfrei“ (1Tim 5,21) gefällt werden und alles muß man „genau untersuchen“ (5Mose 17,4). Es heißt nämlich: „Fällt einen zuverlässigen [oder: vertrauenswürdigen] Rechtspruch“ (Sach 7,9), also einen Rechtsspruch, der nicht bei nächster Gelegenheit widerrufen werden muß und den andere nachvollziehen können. „Wenn ein Rechtsstreit zwischen Männern entsteht und sie vor Gericht treten, und man sie richtet, dann soll man den Gerechten gerecht sprechen und den Schuldigen schuldig“ (5Mose 25,1). Das soll auch nicht durch Bestechung der Richter geändert werden. „Der Gottlose nimmt Bestechung aus dem Gewandbausch an, um die Pfade des Rechts zu beugen“ (Spr 17,23). Auch hier ist Gott das große Vorbild, „der große, mächtige und furchtbare Gott, der niemanden bevorzugt und kein Bestechungsgeschenk annimmt“ (5Mose 10,17); „Denn bei dem HERRN, unserm Gott, ist kein Unrecht, kein Ansehen der Person und kein Annehmen von Geschenken“ (2Chr 19,7). Das Alte wie das Neue Testament begrüßt Geschenke. Menschen schenken, um anderen Menschen zu helfen oder ihnen Freude zu machen. Die Bibel ist aber auch sehr nüchtern, daß Geschenke manchmal gut oder sogar nötig sind, um rechtmäßige Dinge zu erreichen. Wie sagt der Weisheitslehrer? „Das Geschenk eines Menschen schafft ihm weiten Raum, und vor die Großen führt es ihn.“ (Spr 18,16), ja: „Eine Gabe im Verborgenen wendet Zorn ab, und ein Geschenk im Gewandbausch heftigen Grimm“ (Spr 21,14). Trifft der Mensch auf bestechliche Beamte und es besteht keine Aussicht darauf, diese Bestechlichkeit im Moment oder erfolgreich auszumerzen, kann er sein Recht sicher durch Geschenke bewirken. Erst wenn er mit Geschenken Unrecht erkauft, wird er selbst unmittelbar von der Schuld der Korruption getroffen. Doch auch wer gezwungen ist, Bestechungsgelder zu bezahlen, wird dennoch gegen das Übel der Korruption kämpfen und insbesondere jede Form der Bestechlichkeit und Käuflichkeit im Bereich der christlichen Kirche und der Religion auszumerzen suchen. Deswegen darf es keinen doppelten Rechtsstandard geben, etwa ein Recht für den Adel und ein Recht für die Bauern. Schon im Alten Testament sollte für Einheimische und Ausländer dasselbe Strafrecht gelten (z. B. 2Mose 12,49). „Ihr sollt im Gericht nicht Unrecht tun. Du sollst die Person des Geringen nicht bevorzugen und die Person des Großen nicht ehren. Du sollst deinen Nächsten in Gerechtigkeit richten.“ (3Mose 19,15). Gott verteidigt „den Rechtsanspruch des Geringen“ (Spr 29,7), „den Rechtsanspruch aller Schwachen“ (Spr 31,8). Deswegen heißt es: „Öffne deinen Mund für den Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen! Öffne deinen Mund, richte gerecht und schaffe dem Elenden und Armen das Recht!“ (Spr 31,8-9). Deswegen ist von der Bibel her die Gerechtigkeit eines Landes am Schutz der Schwachen zu bemessen. Nicht wie es dem herrschenden Volk geht, zählt alleine, sondern gerade wie es den kleinen Völkern in seiner Mitte geht. Nicht wie es der herrschenden Kirche geht, zählt alleine, sondern auch wie es kleineren christlichen Religionsgemeinschaft ergeht. Nicht wie es den Reichen geht, die das Geld und die Macht haben, ihr Recht zu verteidigen, sondern auch, wie es den Armen, Witwen und Waisen vor Gericht ergeht. Gott ist der Schöpfer und Herr aller Menschen und er möchte, daß wir so miteinander umgehen, wie Gottes Ebenbilder und Geschöpfe miteinander umgehen, nicht wie Bestien einander behandeln.
Prof. Dr. theol. Dr. phil. Thomas Schirrmacher
1Verfaßt für die Konferenz Evangelikaler Publizisten. Erschienen als Thomas Schirrmacher. „Christlicher Glaube und Menschenrechte“ (Russisch). POISK: Ezemedel’naja Vsesojuznaja Gazeta [Zeitschrift der Russischen Akademie der Wissenschaften]. Nr. 48 (446) 22.-28. November 1997. S. 13 (ganzseitig), nachgedruckt als „Christlicher Glaube und Menschenrechte“ (Russisch). Utschitjelskaja Gazeta (Russische Lehrerzeitung). No. 2 (9667) 3.1.1998. S. 21 + No. 3 (9668) 20.1.1998. S. 21 + No. 4 (9669) 3.2.1998. S. 22 (jeweils ganzseitig)