Von der Selbstverwirklichung zur Beziehungsökologie

Vom schwierigen Umgang mit dem Ich in Psychotherapie und Seelsorge.
„Wir gehen auf eine Diktatur des Relativismus zu, die nichts als sicher anerkennt und als ihr höchstes Ziel das eigene Ego und die eigenen Wünsche hat.“ Mit diesen Worten umriß Kardinal Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Papst Benedikt XVI die Lage der Welt aus katholischer Sicht. Markige Worte findet auch Peter Hahne in seinem Bestseller „Schluß mit lustig“ für die grassierende Ichbezogenheit unserer Zeit:
„Die bürgerliche Freiheit der Selbstbestimmung …ist rasend schnell zur hedonistischen Schwundstufe der Selbstverwirklichung pervertiert. Dabei ist Selbstverwirklichung, wie der große Psychotherapeut Victor E. Frankl meint, nichts anderes als „ein manipulatives Tarnwort für übersteigerten Egoismus“. Ich, ich und noch mal ich! – So rückt die Spassgesellschaft den einzelnen Menschen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen in den totalen Mittelpunkt. – Was den Spaß bremst, muß weg. Und seien es die einfachsten Regeln des Zusammenlebens.“ Solche Worte kommen an.
Aber helfen sie uns als Therapeuten auch in der Bearbeitung der seelischen Nöte unserer Patienten und Ratsuchenden? Wie beraten wir einen jungen Mann in der Ablösung von seinem autoritären Vater? Wie beraten wir eine Frau in einer gewalttätigen Ehe? Wie soll eine 40-jährige Frau ihre Lebenspläne gestalten, wo kurz nach dem erfolgreichen beruflichen Wiedereinstieg die 17-jährige Tochter schwanger wird? Wo ist die Grenze zwischen legitimem Selbstinteresse und verwerflicher Ich-Zentriertheit? Wo ist die Grenze zwischen gesundem Selbstwert und krankhafter Ich-Bezogenheit?
Was ist das Gegenteil von Selbstverwirklichung? Ist es etwa das zweite Reizwort in der Diskussion – das Wort „Selbstverleugnung“? Liegt hier also das Spannungsfeld zwischen Psychotherapie und
Seelsorge?
Doch schon da muss ich einhalten und fragen: Stimmt dieser Gegensatz noch für die heutige Seelsorgebewegung, die ich in ihrer Vielfalt als sehr differenziert wahrnehme? Müsste man eher sagen: Spannungsfeld zwischen humanistischer Populär-Psychologie und dogmatischer Kirchenlehre? Oder noch deutlicher – Spannungsfeld zu biblischen und klerikalen Aussagen, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden?
1. Versuch einer Begriffsklärung
1.1. Selbstverwirklichung
Beginnen wir mit einer Definition, wie sie sich in der Online-Enzyklopädie Wikipedia findet: Selbstverwirklichung meint in der Alltagssprache die möglichst umfassende Ausschöpfung der individuell gegebenen Möglichkeiten, Talente, Sehnsüchte und Wünsche. Der Begriff hat für seine konservativen Kritiker einen negativen Beiklang von Egoismus und mangelndem Familiensinn […]
In der Psychologie hat Abraham Maslow den Begriff prominent gemacht. Innerhalb einer Hierarchie der Bedürfnisse setzte er ihn an die oberste Stelle bzw. die letzte Stelle in der Reihung Körper / Sicherheit / Liebe / Anerkennung / Selbstverwirklichung.
Wichtige Exponenten der Humanistischen Psychologie sind neben Maslow, wie allseits bekannt, Carl Rogers und Frederick S. Pearls oder Erich Fromm, um nur einige zu nennen. Unter ihrem Einfluss begab sich in den 70er-Jahren eine ganze Generation auf die Suche nach ihrem Selbst, was auch immer sie darunter verstand. Gestalttherapie und Psychodrama, Körpertherapie, Primärarbeit, Biodynamik, Focusing und individuelle klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie sollten den Weg zur persönlichen Erfüllung zeigen. Es war die Zeit der Selbsterfahrungs-Seminare, Selbstbehauptungs-trainings und Encountergruppen. Deren Botschaft lautete: Nur wer zu sich selbst gefunden hat, wer seine Bedürfnisse kennt und sich nicht länger anderen unterordnet, nur wer sich durchzusetzen weiß, kann psychisch gesund und lebenstüchtig sein. Bald trieb die Suche nach dem Selbst auch spirituelle Blüten, indem Selbstsucher ihren Gurus folgten und von ihnen spirituelle Erleuchtung erhofften.
1.2. Selbstverleugnung
In diesem Klima war das christliche Wort von der Selbstverleugnung hoffnungslos veraltet, geradezu ein Feindbild, ein Sinnbild reaktionärer Verfangenheit in Abhängigkeiten und lustfeindlicher Entsagung.
Tilmann Moser beklagt in seinem klassischen Text „Gottesvergiftung“ seine „Wut über die jahrzehntelange Täuschung, die Qualen, die Zweifel, die vergeblichen Hoffnungen“ und die Beschämung, wenn er sich die „Selbstverleugnung“ vergegenwärtigte (S. 79).
Hier wird die Gottesbeziehung in emotionaler (und unreifer) Weise reduziert auf eine einzige Zugangsweise – die Selbstverleugnung. Was aber verstehen wir eigentlich unter „Selbstverleugnung“? Beginnen wir mit dem Originalzitat, das Jesus selbst ausgesprochen hat: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir! Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ (Matthäus 16:24-25).
Immer wieder hat es in der Religion eine falsche Leibfeindlichkeit und eine falsche Verleugnung persönlicher Bedürfnisse gegeben. Franz von Assisi umschrieb seine Vorstellung von Askese mit folgenden Worten: Der Geist des Herrn jedoch will, dass das Fleisch abgetötet und verachtet, gering geschätzt und schimpflich behandelt werde.“ Diese Lebenshaltung findet auch in unserer Zeit immer wieder ihren Ausdruck. So lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Buches in einem evangelikalen Nischenverlag:  „Bitte schlag mein Ego tot!“ Man weiss nicht, ob man lachen oder weinen soll.
Schon sehr viel differenzierter und tiefer wird die Bedeutung der Selbstverleugnung durch Johannes vom Kreuz (1542-1591) dargelegt. Grundtenor ist eine Loslösung vom eigenen Ich, mit dem Ziel eine unabhängige, in Gott ruhende Persönlichkeit zu werden. Selbstverleugnung in diesem Sinne wird damit zur Persönlichkeitsstärke, die sich nicht von Dingen und Strebungen leiten lassen. „Man fragte einmal den ehrwürdigen Pater Johannes vom Kreuz, wie man zur Ekstase komme. Dieser antwortete, indem man den eigenen Willen verleugne und den Gottes tue. Denn Ekstase sei nichts anderes als ein Über-sich-Hinausgehen der Seele und Sich-von-Gott-Ergreifen-Lassen und das geschehe nur dem, der Gott Folge leiste. Das nämlich bedeute vom Eigenwillen fortgehen, und so befreit vom Ballast gehe man in Gott auf. Vom Äussern gelöst, vom Innern nicht besessen, frei von Habgier nach göttlich Dingen, hält dich kein Vorteil auf und kann dich kein Nachteil behindern.“
2. Begriffe in der Kritik
Selbstverleugnung und Selbstverwirklichung sind Reizwörter, die hüben und drüben ihre Kritiker auf den Plan rufen. Während die Selbstverleugnung in der heutigen Zeit kein erstrebenswertes Ziel ist, hat sich die Selbstverwirklichung als illusionäre Fata Morgana erwiesen. Doch sehen wir uns einige der Argumente an.
2.1. Kritik der Selbstverleugnung
Selbstverleugnung wird mit Selbsthass gleichgesetzt, wie es Hermann Hesse im Steppenwolf ausdrückt: „Das ‚Liebe deinen Nächsten‘ war ihm so tief eingebleut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, dass ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, dass der Selbsthass genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus.
Selbstverleugnung ist allerdings nicht nur ein christliches Konzept. Die neuen Ideale von Diät und gesundem Lebensstil verlangen den Menschen „Selbstverleugnung“ und „Lustverzicht“ ab, der zeitweise beinahe religiöse Züge annimmt.
Eine profunde theologisch-psychologische Auseinandersetzung hat der amerikanische Seelsorge-Vordenker David Benner mit seinem Buch „The Gift of Being Yourself. The Sacred Call of Self-Discovery” vorgelegt. Er schreibt:
„Lässt man das Selbst in der christlichen Spiritualität aus, so entsteht eine Spiritualität ohne Er-fahrungsbasis. Sie hat keinen Bezug zur Wirklichkeit. Sich auf Gott zu fokussieren ohne uns selbst tiefer kennen zu lernen, mag eine äußere Form der Frömmigkeit erzeugen. Sie wird aber immer eine Kluft zwischen äußerem Schein und der Wirklichkeit erzeugen. Dies ist gefährlich für jede Seele – bei geistlichen Leitern aber kann sie katastrophale Folgen für diejenigen haben, die sie führen.“
2.2. Kritik der Selbstverwirklichung
Es mag erstaunen, dass die Selbstverwirklichung nicht nur aus christlich-konservativen Kreisen, sondern auch in der psychologischen Fachliteratur kritisch betrachtet wird. Die bekannte Autorin Ursula Nuber hat in ihrem Buch „Die Egoismus-Falle“ ein eindrückliches Plädoyer gegen eine rücksichtslose Selbstverwirklichung geführt. In einem Artikel in Psychologie Heute (1993) beschreibt sie die Entwicklung mit folgenden Worten:
„Auf dem Weg zu Selbstverwirklichung und Autonomie haben wir die Fähigkeit verloren, die wir heute dringend bräuchten: Die Fähigkeit mit anderen Menschen zu leben und an ihrem Schicksal wirklich Anteil zu nehmen. Wir sind so beschäftigt, dass die anderen weitgehend Staffage für unser Leben geworden sind. Sie spielen für uns nur insoweit eine Rolle, als wir sie für unsere Selbstdarstellung brauchen.“ ( )
Immer deutlicher spüren Menschen in der „Verkrümmung in sich selbst“, wie es Luther einmal ausgedrückt hat, eine tiefe Not, die ihnen letztlich auch den Lustgewinn verweigert, den sie eigentlich suchten. So hat die Bewegung der Selbstverwirklichung auch zu einer Verschiebung der Ursachen von Depressionen geführt. Der französische Soziologe Alain Ehrenberger argumentiert in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“, krank machten nicht länger Schuld und Verdrängung, sondern Freiheit und Verantwortung.
Der heutige Mensch sei zwar freier, doch die Angst zu versagen mache ihn krank. Anstatt Selbstdisziplin und Konformität gilt nun die Aufforderung zur Selbstverwirklichung, zum individuellen Lebensentwurf. Der Mensch ist emanzipiert, aber er trägt schwer an seinen neuen Freiheiten und an seiner Verantwortung.
3. Beziehungsökologie statt Selbstverwirklichung
Was aber ist das Selbst? Was soll da eigentlich verwirklicht oder verleugnet werden? Die Antwort der Wissenschaft ist erstaunlich diffus. Die Ich-Psychologie versucht, die Funktion des Selbst als strukturelle und integrative Instanz zu beschreiben und zu erforschen. Ein faszinierender Überblick, auch aus der Sicht der Neurowissenschaften wird von Siefer & Weber in ihrem Buch „ICH – wie wir uns selbst erfinden“ (2006) gegeben.
Spannend sind auch die Konzepte der Persönlichkeitspsychologie und -psychopathologie (vgl. Fiedler 2001), die versuchen menschliches Verhalten in Strukturen zu fassen und verständlicher zu machen. Bis heute gibt es kein abschließendes Konzept der Persönlichkeitstypisierung, geschweige denn einen Test, der das Selbst verlässlich abbilden könnte.
Eine völlige Loslösung vom Selbst, wie sich das manche spirituellen Utopien erhoffen, ist unmöglich. Jeder Mensch ist „Selbst“. Ein gutes Selbstwertgefühl ist die Grundvoraussetzung eines gelingenden Lebens und darf nicht mit Selbstverwirklichung gleich gesetzt werden. Destruktiv wird Selbstverwirklichung dort, wo sie einseitig die kurzfristigen Interessen des Einzelnen – sein Bedürfnis nach Glück – in den Mittelpunkt stellt. Hier wird Psychotherapie anfällig für Weltanschauungen und Ideologien.
Einer, der die weltanschaulichen Prämissen der Selbstverwirklichungs-Bewegung bereits früh durchschaute, ist der Schweizer Psychiatrie-Professor Jürg Willi. Seine These: „In einer Zeit der Destabilisierung von Beziehungen in Partnerschaft, Familie und am Arbeitsplatz verschieben sich die therapeutischen Schwerpunkte von Problemen um Autonomie und Befreiung von sozialen Zwängen zur wirksamen Gestaltung von Beziehungsprozessen. Veränderte Zeiten erfordern veränderte Therapieziele und neue Therapiemodelle.“
Der Titel seines Buches lautet „Ökologische Psychotherapie“. Und dieser Titel ist Programm. So wie die Zerstörung des Regenwaldes unter kurzsichtigen Interessen dem globalen Wohlergehen der Menschheit zuwiderläuft, so zerstört eine rücksichtslose Selbstverwirklichung langfristige und tragfähige Beziehungen. Dabei nimmt er ausdrücklich Bezug auf Martin Buber, der seine Philosophie auf die Formel gebracht hat: „Das Ich wird am Du.“
Wesentlich, so Willi, sei das aktive Gestalten der „persönlichen Nische“. Leben sei eigentlich „beantwortetes Wirken“. Und Beziehungen gelingen dort, wo ein Mensch offen wird, Liebe zu geben ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten. „Die Persönlichkeit entwickelt sich nicht nur durch einen inegeleiteten Prozess, sondern wird maßgeblich bestimmt von den Wirkungen, die eine Person in ihrer Umwelt entfaltet, insbesondere der persönlichen Nische, die sie gestaltet.“ Diese Schlussfolgerung stammt auch aus den Forschungen von Jürg Willi und seinem Team, die unter dem Titel „Was hält Paare zusammen?“ (1991) veröffentlicht wurden.
„Der Mensch droht heute nicht nur an der Zerstörung seiner natürlichen Umwelt zugrunde zu gehen, sondern auch an der Zerstörung seiner elementaren Gemeinschaftsstrukturen. … Der Schutz menschlicher Ökosysteme, insbesondere der Familie, scheint mir heute ähnlich dringlich wie der Schutz unserer natürlichen Umwelt.“ ( )
In einem Interview mit der Zeitschrift „Psychologie Heute“ ( ) sagte Willi unter anderem: „Bisher galt in der Psychotherapie als erstrebenswertes Ziel, unabhängig zu werden, sich abzugrenzen, nicht auf andere angewiesen zu sein. All das kann als Durchgangsstadium in einer Therapie sinnvoll sein, aber nicht als letzte Zielsetzung. Diese sehe ich ausdrücklich nicht im Unabhängigwerden von der Umwelt, sondern im besseren Gestaltenkönnen der Umwelt.
Wenn eine Therapie am Ende nicht zu einer eindeutig verbesserten Gestaltung der Beziehungsnische führt, dann ist das für mich keine gut gelaufene Therapie.“
Diese aktive Beziehungsgestaltung ist nicht immer einfach: „Erfolgreiches Wirken setzt mühsame Realitätsprüfung voraus, erfordert Kritikfähigkeit, Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Frustrationstoleranz, Bereitschaft zum Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung, Flexibilität und gleichzeitig Beharrlichkeit. ( ).
4. Die Vielfalt der christlichen Selbstkonzepte
Wir haben also gesehen: Auch in der Psychologie und in der Psychotherapie gibt es differenzierte Modelle im Umgang mit dem Selbst, die weit über das einseitige Feindbild der Selbstverwirklichung hinausgehen. Wie steht es nun mit den theologischen und seelsorglichen Konzepten?
Selbstverleugnung ist nicht das einzige Konzept für den Umgang mit dem Selbst. Allerdings wird das Ich, das menschliche Selbst, das „Fleisch“ – für unsere psychologisierte Kultur ungewohnt – in einen ganz anderen Kontext gestellt.
Exemplarisch kommt dies in dem Wort zum Ausdruck: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ ( ). Letzter Bezugspunkt ist nicht das Ich, sondern Gott, in dessen Perspektive wir dann unsere Nächsten und unser Ich verstehen. Und doch steht die Nächstenliebe nicht als letzter Imperativ, sondern in Bezug zur Liebe zu uns selbst. Nicht weniger als neun Mal findet sich diese Stelle im Alten und Neuen Testament. Sie stellt ein Grundgesetz des Zusammenlebens dar.
Auch im christlichen Kontext findet sich nicht nur hingebungsvolle Selbstaufgabe, die sich unter dem Schlagwort „Selbstverleugnung“ subsumieren ließe. Vier Themen rund um das „Selbst“ erscheinen mir einer näheren Betrachtung wert:
1. Die Abgrenzung des Selbst von den Ansprüchen des Umfeldes
2. Selbstkritik – Der Blick in den eigenen Abgrund
3. Fehlentwicklung: Das Selbst als Maßstab des geistlichen Lebens.
4. Selbstverleugnung als positive Strategie.
4.1. Darf ich auch NEIN sagen?
Die Dialektik der christlichen Lehre enthält beides: Nächstenliebe und Abgrenzung von den Ansprüchen des Nächsten. Nicht immer wird dies bedeuten, dass sich ein Mensch aus dem vermeintlichen Willen Gottes heraus bedingungslos dem Nächsten zuwendet (Van der Voet, Cloud &Townsend). Hier einige Merkpunkte:
• Die Bibel vertritt nicht eine rückgrat- und gedankenlose Unterwerfung unter die Ansprüche und Erwartungen des Nächsten.
• NEIN sagen ist erlaubt (Mt. 29,5)
• KONFLIKTE sind manchmal notwendig und müssen ausgetragen werden (1. Kor. 11,19)
• Die Beziehung zu Gott gibt die Kraft, auch in widrigen Umständen den eigenen Selbstwert aufrecht zu erhalten. (2. Kor. 3,5; 4,7)
4.2. Das Selbst als Massstab des geistlichen Lebens?
Es darf nicht verschwiegen werden, dass es Frömmigkeitsstile gibt, die in aller biblischen Rhetorik die eigenen Empfindungen und Erfahrungen derart stark bewerten, dass Gott und sein Wirken am persönlichen Empfinden gemessen werden. Thomas Csordas (1994) geht in seiner soziologischen Analyse charismatischer Heilungskonzepte so weit, dass er sie unter den Titel „The Sacred Self“ stellt. In der Tat sind manche Menschen geneigt, die Gegenwart Gottes daran zu messen, inwieweit sie positive Gefühle in ihrer Anbetung erfahren. Bleiben die Gefühle aus, oder werden sie durch eine Depression getrübt, so wird auch die Gegenwart Gottes in Frage gestellt. Der Glaube wird damit abhängig von der Befindlichkeit des Selbst – eine Kritik, die bereits Karl Barth in Bezug auf den Pietismus äusserte.
4.3. Selbstkritik – „Erkenne dich selbst“
„Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Au-ge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“ (Lukas 6,42)
David Benner (  ) schreibt: „Christliche Spiritualität nimmt auch unseren Schatten, unsere verdrängten Selbstanteile wahr, exponiert sie der Liebe Gottes und erlaubt es ihm, sie in die neue Person hineinzuweben, die er schaffen will. … Erst, wenn ich mich selbst annehme, so wie ich bin, kann Gott auch etwas in mir verändern. Wenn ich meine, das Ich zu kreuzigen bedeute gleichzeitig, gar nicht auf die Schattenseiten zu sehen, dann entsteht daraus eine gefährliche Macht. Das Ich ist nicht gekreuzigt, sondern es ist verdrängt. … Wenn ich Gott erlaube, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, hilft das mir, mich ebenso zu akzeptieren. Dies ist wesentlich für eine echte geistliche Transformation.“
4.4. Gibt es auch positive Aspekte der Selbstverleugnung?
Es darf nicht verschwiegen werden, dass Selbstverleugnung zum Problem werden kann, dort nämlich wo Selbstverleugnung zu Selbstabwertung führt; wo sie zum Leiden ohne Notwendigkeit und Sinn führt; wo Selbstverleugnung sich selbst und anderen Lebensgenuss versagt oder verbietet – unter An-drohung von Strafe oder anderen negativen Konsequenzen; wo sie legitime Wünsche und Strebungen (nach Liebe und Wertschätzung) negativ besetzt.
Die Nöte der emotional verletzten und seelisch hungernden Menschen lassen uns aber oftmals vergessen, welche verändernde Kraft in einer richtig verstandenen „Selbstverleugnung“ zum Ausdruck kommen kann:
– Nicht das Ich ist der Maßstab, sondern eine höhere Sache – christlich und ideologisch.
– Viele grosse Dinge wären nicht geschehen, hätten nicht einzelne Menschen die Interessen der Sache über ihr eigenes Wohlergehen gestellt (etwa Dietrich Bonhoeffer oder Sophie Scholl im Widerstand gegen Hitler)
– Bescheidenheit: „Wenn ich etwas kann, dann deshalb, weil Gott mich dazu befähigt.“
– Bewusster Verzicht auf „Lustgewinn“, Genuss oder Annehmlichkeiten, weil sie dem Lebensziel hinderlich sind.
– Entbehrung (bzw. aufgeschobene Bedürfnisbefriedigung) führt eher zu Lustgewinn als die ständige Verfügbarkeit und Machbarkeit von „Glück“.
In seinem Friedensgebet hat Franz von Assisi die zeitlosen Worte so gefasst: „Denn wer sich hingibt, der empfängt; wer sich selbst vergisst, der findet.“
5. Schlussfolgerungen
Wie kommunizieren Psychotherapie und Seelsorge miteinander über das Selbst? Was haben sie einander zu sagen? Wie können wir die veralteten Denkschablonen aufgeben zugunsten eines höheren Ziels, nämlich christliche Grundwerte in der Psychotherapie zu stärken? Hier einige Gedankenanstöße:
Der Gedanke der Beziehungsökologie erscheint mir für die Psychotherapie grundlegend wichtig. In ihrer Suche nach dem Glück brauchen Menschen Leitlinien, die über eine falsche Autonomie hinausgehen. Hier könnte das Modell der ökologisch-systemischen Psychotherapie wegweisend sein. Wenn unsere Gesellschaft überleben soll, braucht es verantwortliche und lebbare Konzepte der Beziehungsgestaltung. Das Ziel einer Psychotherapie darf nicht nur individuelles Glück sein, sondern das Wohl des Ganzen – in Partnerschaft, Familie und grösseren Gemeinschaften – vom Arbeitsplatz bis hin zur Politik. Für eine solche therapeutische Zielsetzung sind Werte gefragt, Werte, die sich gerade auch im christlichen Glauben finden. So ist es für mich ein hoffnungsvolles Zeichen, dass immer mehr Veröffentlichungen im säkularen Bereich den Glauben nicht mehr nur als neurotisierende, sondern als stabilisierende Kraft entdecken.
Im Mittelpunkt unseres Bemühens als Therapeuten steht der leidende Mensch. Wir werden in unserer ärztlich-therapeutischen Seelsorge differentialdiagnostisch erfassen müssen, welcher Umgang mit dem Selbst angesagt ist. Christus sprach zu den Starken und zu den Schwachen. Den Starken gab er die Herausforderung: „Verleugne dich selbst und folge mir nach.“ Aber die Pharisäer geißelte er für ihre notorische Gesetzlichkeit und überhöhten Forderungen: „Ihr legt den Menschen unerträgliche Lasten auf – die ihr selbst nicht einhaltet.“ Das Spannungsfeld von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe kann auch bei tief gläubigen Menschen zu einem großen Konflikt werden (Murken 2004, Pfeifer 1999).
Liebe Dich selbst – das bedeutet auch: Stehe zu deinen Grenzen; lass dich nicht durch immer neue Aktivitäten und den unkritischen Drang, allen helfen zu müssen, in einen Burnout treiben. Jesus lebte beides: tiefe Ergriffenheit im Angesicht menschlicher Not und bewusste Abgrenzung im Wissen darum, dass nur der geben kann, der auch Zeit für die Erholung und für die geistliche Gemeinschaft mit Gott nimmt.
Hier müssen sich Psychologen und Seelsorger kritisch hinterfragen:
– Welchen Raum darf Gott im Umgang mit dem Selbst und mit dem Nächsten noch ein-nehmen?
– Wie kann die Beziehung zu Gott den Menschen in einem Mass stärken, dass er auch seinem Nächsten (und notfalls seinem Feind) in Liebe begegnen kann?
– Wo gilt es Selbstwahrnehmung und Abgrenzung zu fördern, gerade aus dem Anliegen heraus, dass Gott nicht immer nur fordert?
– Und wie kann die Beziehung zu Gott ihm die Kraft geben, Konflikte und Lebensaufgaben konsequent anzugehen, ohne egoistisch zu sein?
Zwischen den beiden Polen einer rücksichtslosen Selbstverwirklichung und einer asketischen Selbstverleugnung öffnet sich ein weites Feld psychologischer und seelsorglicher Konzepte für den Umgang mit dem Selbst. Auf der einen Seite werden wir versuchen, den Selbstwert eines Menschen zu fördern, der von Anselm Grün als „das Gespür für das Bild, das Gott sich von mir gemacht hat“ beschrieben wurde. Und weiter: „Während der Selbstbewußte sich keine Schwäche leisten darf, erlaubt mir das Selbstvertrauen, auch schwach zu sein. Das Selbstwertgefühl bläht sich nicht auf, es ist vielmehr das Gefühl für den eigenen Wert in allen Schwächen und Grenzen.“
Die Seelsorge aber bezieht noch eine weitere Dimension mit ein, die von Calvin einmal wie folgt umschrieben wurde: „Es gibt keine tiefe Gotteserkenntnis ohne eine tiefe Selbsterkenntnis und keine tiefe Selbsterkenntnis ohne tiefe Gotteserkenntnis.“
Literaturhinweise zum Thema
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Benner D. G. (2004): The Gift of Being Yourself. The Sacred Call of Self-Discovery, Downers Grove: Intervarsity Press. ISBN 0-8308-3245-9.
Branden N (1995). Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls. München: Piper.
Cloud H. & Townsend J. (1998): Nein sagen ohne Schuldgefühle. Wie man sich gegen Über-griffe schützt. 8. Auflage 2005. Holzgerlingen: Edition Trobisch.
Csordas T (1994). The Sacred Self. A Cultural Phenomenology of Charismatic Healing. Ber-keley: University of California Press.
Ehrenberg A. (2004). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Campus.
Fiedler P. (2001). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Beltz.
Freud S. (1930/1994). Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag.
Grün A.: Selbstwert entwickeln, Ohnmacht meistern. Spirituelle Wege zum inneren Raum. Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach.
Hahne P. (2004). Schluss mit lustig. Das Ende der Spassgesellschaft. Lahr: Johannis.
Hinsch R. & Pfingsten U. (1998): Gruppentraining sozialer Kompetenz. Grundlagen, Durchführung, Materialien. Weinheim: Beltz.
Jaspers K. (1959) Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin/Heidelberg/New York.
Johannes vom Kreuz: Weisheit und Weisung. Die Aphorismen und andere Kurzprosa. Neu übersetzt und aus heutiger Sicht erläutert von Erika Lorenz. Kösel, München1997.
Murken S. (2004). Selbstliebe, Nächstenliebe oder Gottesliebe? Überlegungen zur Klassifikation religiöser psychosozialer Konflikte. Zeitschrift für Religionspsychologie 12:113–139.
Nuber U. (1993). Das Ende des Ich-Kults? Psychologie Heute, Juni 1993, 20 – 24.
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Pfeifer S. (1999). Wenn der Glaube zum Problem wird. Wege zur inneren Heilung. Bendow, Moers. – Download als pdf: www.samuelpfeifer.com
Schmid W. (2004). Mit sich selbst befreundet sein. Frankfurt: Suhrkamp.
Schütz A. (2005). Je selbstsicherer, desto besser? Licht und Schatten positiver Selbstbewertung. Weinheim: Beltz.
Siefer W. & Weber C. (2006). ICH – Wie wir uns selbst erfinden. Frankfurt: Campus.
Tournier P.: Sich durchsetzen oder nachgeben? Die Frage, die sich jedem stellt. Bern, Humata Verlag (Ohne Jahresangabe)
Trobisch W. (1975 / 2004). Liebe dich selbst. Wege zur Selbstannahme. Witten: Brockhaus.
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Willi J. (1989). Ko-Evolution – Die Kunst gemeinsamen Wachsens. Reinbek: Rowohlt.
Willi J. (1991). Was hält Paare zusammen? Der Prozess des Zusammenlebens aus psycho-ökologischer Sicht. Reinbek: Rowohlt.
Willi J. (1996). Ökologische Psychotherapie. Theorie und Praxis. Göttingen: Hogrefe.
Powerpoint-Datei Download von: www.seminare-ps.net
http://www.akademieps.de/download/4567-Pfeifer-Selbstverwirklichung.doc Samuel Pfeifer

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