Kant sagte, daß es unmöglich sei, zum Wesen Gottes vorzudringen, und wir finden heute entsprechend viele Menschen, die sich für verschiedene Manifestationen von Spiritualität interessieren oder mit ihnen experimentieren, ohne einen absoluten Wahrheitsanspruch zu erheben. Solange es verschiedene Wege zum Gipfel gibt, sind die Menschen es zufrieden, daß der Gipfel unerreichbar ist oder vielleicht auch gar nicht existiert. Die Befriedigung liegt in der Reise selber; an das Ziel – die persönliche Begegnung mit dem höchsten Wesen – zu gelangen, ist unmöglich. Doch das Kreuz erzählt uns, daß dieses Wesen zu uns herabgekommen ist. Die Inkarnation erklärt uns, daß Jesus der Gott-Mensch ist, der in Raum und Zeit hineingekommen ist; das Kreuz und die Auferstehung bestätigen seine Identität. Von uns aus könnten wir ihn nie erreichen, darin hatte Kant recht: Es gibt eine Barriere zwischen Gott und Mensch. Die Christen behaupten nicht, deswegen Zugang zu Gott zu haben, weil sie klüger oder besser wären als andere Leute. Sie sind nicht zu dem Geheimnis des Universums vorgedrungen. Aber das Geheimnis des Universums ist zu ihnen gekommen! Die Bibel sagt uns, daß in Jesus Christus »das Geheimnis« (das Wort bedeutet im Griechischen etwas Verborgenes) enthüllt worden ist (Kolosser 1,26-27). Dafür ist das Kreuz das Siegel, das uns dazu aufruft, unser Vertrauen auf dieses höchste Wesen zu setzen. Genauer gesprochen, offenbart das Kreuz zwei Dinge über Gott. Zwei Dinge, die vielen Menschen ein Problem sind, besonders wenn es um die Herrschaft und Hoheit Jesu geht. Das Kreuz zeigt uns Gottes Gerechtigkeit und seine Liebe. Beide sind schwer zu glauben in einer Welt der Schmerzen und der Not, aber beide werden am Kreuz demonstriert – auf eine Art, die unseren Glauben wecken will, daß Jesus wirklich der Herr ist. Weil wir alle schon gelitten haben, fällt es uns schwer, zu glauben, daß Gott gerecht ist. Mag ja sein, daß kein Mensch völlig unschuldig ist, aber viele scheinen so viel mehr leiden zu müssen, als sie verdient haben. Der Leidende wird leicht verbittert auf Gott: »Warum hast du das zugelassen?« Einen gerechten Gott – gibt es das überhaupt? In meinem Beruf als Pastor werde ich viel mit den persönlichen Problemen der Menschen konfrontiert. Manchmal kann ich es nach einem Tag Predigen und Seelsorge kaum fassen, wie viel Schlimmes es im ganz normalen Alltag gibt. Hier der unheilbare Krebs, dort der Alkoholiker, der Frau und Kinder schlägt. Ja, wie kann Gott gut sein, wenn er so etwas zuläßt?
Es gibt keine Patentantwort auf diese Frage. Wir alle leiden und verstehen nicht, warum. Aber ein Christ kann als Antwort auf das Kreuz zeigen. Denn dort am Kreuz hat Gott selber bis in die tiefsten Tiefen gelitten. Und dort am Kreuz hat er uns gezeigt, daß er das Böse nicht ungestraft läßt. Er sitzt nicht däumchendrehend da und läßt die Welt vor die Hunde gehen. Er wird handeln, ja er hat gehandelt. Es hat seinen Sohn das Leben gekostet.
Die Bibel lotet diese Tiefe des Erlösungshandelns Gottes aus, wenn sie an einer berühmten Stelle sagt: Den [Jesus] hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, daß er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus (Römer 3,25-26).
Josh Moody: Biblische Spiritualität in der neuheidnischen Gesellschaft Seite 120/121