Als Christen leben wir zwei Jahrtausende später immer noch unter den Wirkungen des Kreuzes Jesu. Mir scheint es aber, dass es im gegenwärtigen Leben vieler Menschen immer mehr verblasst, meist, so glaube ich, weil wir die „Kraft“ bzw. die „Wirkung“ des Kreuzes nicht mehr wirklich verstehen. Das Thema „Kreuz“ ist sicherlich ein Mysterium, das auszuloten uns die ganze Ewigkeit hindurch beschäftigen wird. Doch ob es uns gefällt oder nicht: Wir sind beteiligt. Unsere Sünden haben ihn dorthin gebracht. Haben wir diese Stellvertretung wirklich erfasst? Da das Kreuz einen alles durchdringenden Einfluss hat, wollen wir einige Punkte dazu näher betrachten:
Das Kreuz und die Stellvertretung
„Denn alle, die aus Gesetzeswerken sind, die sind unter dem Fluch; denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!‘ dass aber durch Gesetz niemand vor Gott gerechtfertigt wird, ist offenbar, denn ‚der Gerechte wird aus Glauben leben‘. Das Gesetz aber ist nicht aus Glauben, sondern: ‚Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.‘ Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist – denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!‘ – damit der Segen Abrahams in Christus Jesus zu den Nationen komme, damit wir die Verheißung des Geistes durch den Glauben empfingen.“ (Gal 3,10-14) Diese Verse stellen eine der klarsten Darlegungen der Notwendigkeit, der Bedeutung und der Folgen des Kreuzes dar. Paulus drückt sich hier so krass aus, dass manche Kommentatoren nicht zu akzeptieren vermochten, was Paulus über den „Fluch“ schreibt, der Christus für uns „geworden“ ist. A. W. F . Blunt zum Beispiel schrieb in seinem Kommentar: „Die Ausdrucksweise hier ist erschreckend, geradezu schockierend. Wir hätten es nicht gewagt, sie zu gebrauchen.“ Auch J. Jeremias nannte es einen „schockierenden Ausdruck“ und sprach von seiner „ursprünglichen Anstößigkeit“. Dennoch bediente sich der Apostel Paulus dieser Ausdrucksweise, und Blunt hat sicherlich recht, wenn er hinzu fügt, dass „Paulus jedes Wort ernst meint“. Also müssen wir einen Zugang dazu finden. Mehrere Versuche wurden unternommen, um die Aussage abzuschwächen. Zunächst hat man angedeutet, Paulus habe den „Fluch“ bewusst depersonalisiert, indem er ihn den „Fluch des Gesetzes“ nannte. Doch der Ausdruck in 5. Mose 21,23 lautet „Fluch Gottes“; man kann nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass Paulus der Schrift widersprechen wollte. Zweitens wurde vorgeschlagen, darin, dass er ein Fluch „wurde“, drücke sich das Mitleid Christi mit den Gesetzesbrechern aus, nicht ein objektives Aufsichnehmen ihrer Verurteilung. Hier ist Blunts Interpretation: „Nicht durch eine strafrechtliche Fiktion nahm Christus unsere Sünden auf sich, sondern durch einen Akt echten Mitgefühls“, wie eine Mutter, die einen Sohn auf Abwegen hat und „seine Schuld zugleich auch als die ihre empfindet“. Aber das ist ein Ausweichmanöver; es wird Paulus‘ Worten nicht gerecht. Mit Jeremias‘ Worten ist „wurde“ eine „Umschreibung für das Handeln Gottes“. Drittens wird gesagt, Paulus‘ Aussage, Christus sei „ein Fluch“ für uns geworden, gehe nicht so weit zu sagen, er sei tatsächlich „verflucht“. Doch Jeremias zufolge ist „Fluch“ eine Metonymie [Übertragung] für „der Verfluchte“, sodass wir die Formulierung mit „Gott machte Christus für uns zum Verfluchten“ wiedergeben müssten. Sie wäre dann eine Parallele zu „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht“ (2.Kor 5,21). Und wir werden die beiden Formulierungen akzeptieren, ja Gott für ihre Wahrheit anbeten können, weil „Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte“ (2.Kor 5,19), gerade indem er Christus sowohl zur Sünde als auch zum Fluch machte. Luther erfasste sehr klar, was Paulus meinte, und drückte mit seiner charakteristischen Unverblümtheit aus, was damit impliziert war: „Als der barmherzige Gott sah, dass wir durchs Gesetz niedergeworfen werden und unter dem Fluch festgehalten sind, und dass wir durch nichts uns selbst befreien können, da sandte er seinen Sohn in die Welt und warf auf ihn unser aller Sünden und sprach zu ihm: Du sollst Petrus sein, jener Verleugner, du sollst Paulus sein, jener Verfolger, Lästerer und Gewaltmensch, du sollst David sein, jener Ehebrecher, du sollst jener Sünder sein, der die Frucht im Paradies aß, jener Räuber am Kreuz, in Summa: du sollst aller Menschen Person sein und sollst aller Menschen Sünde getan haben, du also sieh zu, wie du Lösung schaffst und für sie Genugtuung.“ Wir müssen die Logik der Lehre des Paulus nachfühlen. Erstens, alle, die aus Gesetzeswerken sind, die sind unter dem Fluch. Zu Beginn von Vers 10 verwendet Paulus erneut den Ausdruck, den er schon in Galater 2,16 dreimal gebrauchte, nämlich „jene, die der Werke des Gesetzes sind“ (wörtlich). Der Grund, warum Paulus diese Leute für „unter dem Fluch“ stehend erklären kann, ist, dass die Schrift genau das über sie sagt: „Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!“ (vgl. 5. Mo 27,26). Kein Mensch ist je dabei „geblieben“, „alles“ zu tun, was das Gesetz fordert. Einen solchen beständigen und umfassenden Gehorsam hat niemand geleistet außer Jesus. Darum ist „offenbar“ (V. 11), dass „durch das Gesetz niemand vor Gott gerechtfertigt wird“, weil niemand es gehalten hat. Außerdem sagt die Schrift auch: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hab 2,4), und Leben „aus Glauben“ und Leben „aus dem Gesetz“ sind zwei völlig verschiedene Zustände (V. 12). Die Schlussfolgerung ist unvermeidlich. Obwohl theoretisch diejenigen, die dem Gesetz gehorchen, leben werden, wird das in der Praxis keinem von uns gelingen, weil keiner von uns gehorsam war. Deshalb können wir das Heil auf diese Weise nicht erlangen. Im Gegenteil, statt durch das Gesetz gerettet zu werden, sind wir von ihm verflucht. Der Fluch oder das Gericht Gottes, die sein Gesetz über die Gesetzesbrecher verkündet, lastet auf uns. Das ist die schreckliche Notlage der verlorenen Menschheit. Zweitens, Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist. Das ist wahrscheinlich die klarste Aussage über die Stellvertretung im Neuen Testament. Der Fluch des gebrochenen Gesetzes lastete auf uns. Christus erlöste uns davon, indem er an unserer Stelle zum Fluch wurde. Der Fluch, der auf uns lag, wurde auf ihn übertragen. Er nahm ihn auf sich, damit wir ihm entkommen könnten. Und der Beweis, dass er unseren Fluch auf sich nahm, ist, dass er an einem Baum hing, denn 5. Mose 21,23 erklärt eine solche Person für verflucht (V. 13). Drittens: Dies tat Christus, damit der Segen Abrahams in Christus Jesus zu den Nationen komme … durch den Glauben (V. 14). Der Apostel geht bewusst von der Sprache des Verfluchens zu der des Segnens über. Christus starb für uns, nicht nur, um uns von dem Fluch Gottes zu erlösen, sondern auch, um uns den Segen Gottes zu verschaffen. Jahrhunderte zuvor hatte Gott versprochen, Abraham zu segnen und durch seine Nachkommenschaft auch die heidnischen Nationen. Und diesen verheißenen Segen interpretiert Paulus hier als Rechtfertigung (V. 8) und „Geist“ ( V. 14 ). So sind alle, die in Christus sind, reich gesegnet. Zusammengefasst: Wegen unseres Ungehorsams standen wir unter dem Fluch des Gesetzes. Christus erlöste uns davon, indem er ihn an unserer Stelle auf sich nahm. Infolgedessen empfangen wir durch den Glauben an Christus den verheißenen Segen des Heils. Die Folgerichtigkeit ist unwiderstehlich. Sie erweckt unsere demütige Anbetung dafür, dass Gott in Christus, in seiner heiligen Liebe zu uns, bereit war, so viel zu tun, und dass die Segnungen, die wir heute genießen, nur der Tatsache zu verdanken sind, dass er jenen Fluch am Kreuz für uns auf sich nahm. Das Kreuz und die Verkündigung „O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde? Nur dies will ich von euch wissen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen oder aus der Kunde des Glaubens? Seid ihr so unverständig? Nachdem ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleisch vollenden?“ (Gal 3,1-3) Soeben (in Gal 2,11-14) hat Paulus geschildert, wie er sich in Antiochien öffentlich mit Petrus auseinandersetzte, weil sich dieser von der Tischgemeinschaft mit Heidenchristen zurückgezogen und somit im Grunde ihrer gnädigen Annahme durch Gott widersprochen hatte. Dann hat er die Argumente wiedergegeben, die er gegenüber Petrus anführte, um die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben zu beweisen. Und nun gibt er einen Ausdruck erstaunter Empörung von sich. Er wirft den Galatern Unverstand vor. Zweimal verwendet er den Ausdruck anoetos, der wörtlich „ohne nous“, also „ohne Verstand“ bedeutet. Ihr Unverstand ist so uncharakteristisch und so inakzeptabel, dass er sogar fragt, wer sie „bezaubert“ habe. Damit impliziert er, jemand müsse sie mit einem Bann belegt haben; vielleicht der Erzbetrüger, zweifellos aber falsche, menschliche Lehrer. Denn ihre gegenwärtige entstellte Version des Evangeliums ist völlig unvereinbar mit dem, was sie von Paulus und Barnabas gehört haben. Darum erinnert er sie an das, was er ihnen verkündigt hat, als er bei ihnen war. Er hat ihnen Jesus Christus „deutlich“ (EÜ) als den Gekreuzigten vor Augen gestellt. Wie kamen sie jetzt, nachdem sie ihr christliches Leben durch den Glauben an den gekreuzigten Christus begonnen hatten, dazu, sich einzubilden, sie müssten es durch eigene Leistung fortsetzen? Aus diesem Text lässt sich vieles über die Predigt des Evangeliums lernen. Erstens: Evangeliumspredigt ist Verkündigung des Kreuzes. Sicher, die Auferstehung muss auch hinzukommen (Gal 1,1; 2,19-20). Ebenso auch, dass Jesus „von einer Frau unter Gesetz“ geboren wurde (4,4). Doch im Kern ist das Evangelium die gute Nachricht von Christus, dem Gekreuzigten. Zweitens: Evangeliumspredigt ist die anschauliche Verkündigung des Kreuzes. Paulus verwendet hier ein bemerkenswertes Verb, prographo. Meist bedeutet es „zuvor schreiben“, zum Beispiel „wie ich es oben kurz geschrieben habe“ (Eph 3,3). Doch grapho kann manchmal auch zeichnen oder malen bedeuten statt schreiben, und pro kann ein räumliches „vor“ sein (vor unseren Augen) statt ein zeitliches (zuvor). Paulus vergleicht also hier seine Evangeliumspredigt entweder mit einer riesigen Gemäldeleinwand oder einem Plakat, das öffentlich eine Bekanntmachung oder Werbung zeigt. Der Gegenstand dieses Gemäldes oder Plakats war Jesus Christus am Kreuz. Natürlich war es kein echtes Gemälde; das Bild wurde durch Worte erzeugt. Doch es war so visuell und appellierte so anschaulich an die Vorstellungskraft, dass das Plakat den Galatern „vor Augen gemalt“ wurde. Eine der größten Künste oder Gaben bei der Evangeliumspredigt ist es, die Ohren der Menschen in Augen zu verwandeln und sie sehen zu lassen, wovon wir reden. Drittens: Evangeliumspredigt verkündigt das Kreuz anschaulich als eine gegenwärtige Wirklichkeit. Die Kreuzigung Jesu war mindestens fünfzehn Jahre her, als Paulus dies schrieb, und für uns sind es fast zwei Jahrtausende. Was Paulus durch seine Predigt tat (und was wir durch unsere tun müssen), war, dieses Ereignis aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Durch das Zusammenwirken von Wort und Sakrament kann dies geschehen. Es kann die Zeitbarriere überwinden und vergangene Ereignisse so zu gegenwärtigen Wirklichkeiten machen, dass Menschen auf sie reagieren müssen. Fast sicherlich war keiner von Paulus‘ Lesern bei der Kreuzigung Jesu dabei; doch die Predigt des Paulus stellte sie ihnen vor Augen, sodass sie sie sehen konnten, und sie stellte sie in ihre existenzielle Erfahrung, sodass sie sie entweder annehmen oder ablehnen mussten. Viertens: Evangeliumspredigt verkündigt das Kreuz als eine anschauliche, gegenwärtige und fortdauernde Wirklichkeit. Denn was wir (wie Paulus) vor den Augen der Menschen plakatieren sollen, ist nicht nur Christos staurotheis (Aorist), sondern Christos estauromenos (Perfekt). Die Zeitform des Verbs betont nicht so sehr, dass das Kreuz ein historisches Ereignis der Vergangenheit war, als vielmehr dass seine Gültigkeit, seine Kraft und seine Wohltaten von Dauer sind. Das Kreuz wird niemals aufhören, jedem Glaubenden Gottes Kraft zum Heil zu sein. Fünftens: Evangeliumspredigt verkündigt das Kreuz auch als Gegenstand persönlichen Glaubens. Paulus plakatierte ihnen den gekreuzigten Christus nicht vor Augen, damit sie ihn nur anstarren. Sein Ziel war es, sie zu überzeugen, zu kommen und ihr Vertrauen auf ihn als ihren gekreuzigten Heiland zu setzen. Und das hatten sie ja auch getan. Der Grund für Paulus‘ Erstaunen war, dass sie, nachdem sie durch den Glauben die Rechtfertigung und den Heiligen Geist empfangen hatten, sich einbildeten, ihr christliches Leben durch eigene Leistung fortsetzen zu können. Das war ein Widerspruch zu dem, was Paulus ihnen vor Augen gestellt hatte. Mögen wir durch den Glauben an das Kreuz Jesu die Segnungen davon wieder entdecken, d. h. die Auswirkungen des Kreuzes Jesu und deren Kraft auch in unserem Leben ergreifen, statt auf die eigenen, religiösen, unvollkommenen Werke zu bauen. Dann können wir mit Gewissheit sagen: Durch Christi Erlösung ist der Schöpfer Himmels und der Erde für uns. Auszug aus dem Buch „Das Kreuz – Zentrum des christlichen Glaubens“ von John Stott TEIL 1
Was für eine Predigt! AMEN! Und: Danke!
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