Eine Ortsbestimmung des Dekalogs
„Mose sprach: Und nun höre, Israel, die Gebote und die Rechte, die ich euch lehre, dass ihr danach tut, damit ihr am Leben bleibt… und in das Land hineinkommt, das euch der Herr, der Gott eurer Väter, geben will. Ihr sollt nichts hinzutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, sondern die Gebote des Herrn, eures Gottes, halten, die ich euch gebe.“ (5 Mose 4,12)
Gelten die Zehn Gebote heute noch für uns? Gelten sie für uns, weil wir Christen sind? Oder gelten sie allen Menschen überhaupt?
Einige Redner in gewichtigen kirchlichen Ämtern haben, wie die Zeitungen berichten, diese Konsequenz gezogen und damit ein bisschen Sensation gemacht. So sagte beispielweise einer, die Zehn Gebote gingen uns in beiderlei Hinsicht nichts mehr an: Es sei unmöglich, a) einen Katalog von ewigen Verhaltensnormen aufzustellen; vielmehr müsse der Christ jeweils in der konkreten Situation entscheiden, was die Liebe im jeweiligen Fall gebiete‘, und es sei b) auch nicht möglich, die Zehn Gebote der Bibel als die Grundlage der gesellschaftlichen Moral anzunehmen. 2
Die Zehn Gebote gehören also, heißt es, weder auf die Kanzel noch aufs Rathaus. Wohin gehören sie? In die Religionsgeschichte? Welches Gewicht haben die Zehn Gebote für uns? Was gehen sie uns an? Für wen gelten die Gebote?
Ich gebe drei Antworten:
1. Die Zehn Gebote gelten für das Volk Gottes, dem sie gegeben sind.
2. Die Zehn Gebote empfehlen sich jedermann als treffender Ausdruck des Guten.
3. Die Zehn Gebote sind der Rahmen christlicher Ethik; sie müssen ausgefüllt werden durch die Führung des Geistes, durch die Liebe.
1. Die Zehn Gebote gelten für das Volk Gottes, dem sie gegeben sind
In der Tat müssen wir zuerst fragen: Für wen gelten die Gebote? Wir müssen Umstände und Kontext beachten. An wen richtet sich denn diese Anrede des Mose, von der wir gehört haben? An „Israel“, und zwar zunächst an eine bestimmte Generation in der Geschichte Israels. Dort ist der Dekalog lokalisiert. Nur dort? Schon die Söhne derer, die ihn zuerst gehört haben – sie sind offenbar nicht so verschieden von uns viel Späteren! -, haben das zunächst angenommen; sie stießen sich bereits an diesen Geboten und fragten wie wir (5 Mose 6,20): „Was sollen denn die Vermahnungen, Gebote und Rechte, die der Herr euch geboten hat?“ Ganz Israel ist angeredet, jede lebende Generation.
Freilich – eben Israel. Also dies besondere Volk, das aus Ägypten gekommen ist. Der Text selbst sondert ja dies Volk aus, wenn er 5 Mose 4.34 fragt: „Ist denn das sonst schon jemals vorgekommen, dass ein Gott versucht hat, herzukommen und sich ein Volk mitten aus einem anderen Volk herauszuholen?!“ Israel ist ein besonderes Volk, das Volk des Bundes mit Gott, und die Zehn Gebote, sind das Grundgesetz dieses Bundes.
Israel ist angeredet. Wir sind nicht Israel im biologischen Sinne, aber sehr wohl im heilsgeschichtlichen, sofern auch wir zur christlichen Kirche, zum Neuen Bund, zum einen Volk Gottes gehören. Paulus beschreibt das mit einem Bild aus dem Gartenbau (Röm 11,17): „Du bist, der du von einem wilden Ölbaum stammst, neben den natürlichen Zweigen des edlen Ölbaumes eingepfropft und hast Anteil an derselben saftreichen Wurzel bekommen.“ „Wenn ihr Christus angehört, so seid ihr ja Abrahams Nachkommenschaft und Erben nach der Verheißung“ (Gal 3,29). Es wäre also, wenn schon kritisch, die umgekehrte Frage zu stellen: Wieso der Dekalog nicht in der christlichen Kirche wäre …!
Mose geht uns also insofern und insoweit an, als Jesus Christus sein Zeugnis aufnimmt, und das trifft für den Dekalog zu. Durch die Autorität Jesu hat der Dekalog immer und überall Geltung für alle, die Jesus nachfolgen. Jesus macht unbedingt ernst mit der Forderung des Dekalogs. Er zitiert ihn als fundamentale Weisung für den Weg zum Leben in der Begegnung mit dem reichen Jüngling (Mt 19,18).
Er selbst warnt davor, dass man sich eine falsche Meinung von seiner Absicht bilde: „Meinet nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. “ (Mt 5,i7ff).
Für alle, die nach dem Missionsbefehl Jesu zu Jüngern gemacht worden sind, die man gelehrt hat, alles zu halten, was Jesus seinen Jüngern gesagt hat, für sie alle ist der Dekalog in Geltung, „bis Himmel und Erde vergehen“.
2. Die Zehn Gebote empfehlen sich jedermann als treffender Ausdruck des Guten
Gilt nun, dass der Dekalog dem Volke Gottes gegeben ist, wie verhält es sich aber mit der Allgemeinheit der Menschen gegenüber dem Dekalog? 5 Mose 4,6 lesen wir weiter: „So haltet sie denn und tut danach! Denn das ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker. Wenn sie von all diesen Geboten hören, werden sie sagen: Ein weises und einsichtiges Volk sind sie, eine große Nation!“ Da wird der Dekalog als der besondere Besitz und Vorzug Israels bezeichnet, als etwas, das sie in die Völkerwelt einbringen und eingebracht haben, ein besonderer Besitz, der jedoch von allen Völkern anerkannt und gerühmt wird. Der Dekalog ist die Vorwahl des ethischen Geländes; er erspart dem Menschen, aus der ganzen Klaviatur der Möglichkeiten menschlichen Handelns immer erst wieder von neuem dasjenige auszugrenzen, das in jedem Falle für Leben und Gemeinschaft nicht förderlich wäre.
Was wollen denn die Leute eigentlich, wenn sie meinen, der Dekalog sei überholt? Wollen sie Raum schaffen für üble Nachrede und Diebstahl, Machenschaften gegen fremdes Eigentum und auf diesem Wege dem Fortschritt dienen und das Leben fördern? Soll Ehebruch gut sein? Und dann: für wen? Auch für den betrogenen Teil?
Wo der Dekalog nicht ist, da sind auch die anderen Heilsgüter nicht; das gilt für Schöpfung wie für Erlösung, für Heiden, Juden, Moslems und für Christen. Den immanenten, gottlosen Lösungen, seien sie noch so gutwillig, steht immer wieder der plötzlich böse Wille des Menschen entgegen. Der Dekalog gehört als der treffende Ausdruck des Guten also nicht nur auf die Kanzel; er empfiehlt sich auch für das Rathaus..
3. Die Zehn Gebote sind der Rahmen christlicher Ethik; sie müssen gefüllt werden durch die Führung des Geistes und die Liebe
Die Zehn Gebote sind wie die Leitplanken einer Straße, die den guten Weg aus dem umgebenden Sumpfland abgrenzen; aber sie sind selbstverständlich nicht das Ziel, und niemand möchte auch mit abgeschlossenem Lenkrad, sich an den Leitplanken scheuernd, dem Ziel schmerzhaft näher kommen. Die Zehn Gebote sind wie der Bauzaun und das planierte Grundstück, aber nicht das Bauwerk selbst. Die gut bürgerliche, moralisch unanstößige Befolgung des Dekalogs ist auch noch nicht die Verwirklichung von Gottes Plan in der Welt.
Der Dekalog ist der Rahmen des Guten; aber wer sagt uns nun, was von sechs guten Dingen das in einer bestimmten Situation richtige ist? Ist der Dekalog die Vorwahl – was bestimmt die Entscheidung? Der Dekalog ist der Rahmen, nicht das Ziel. Das Ziel ist die Vollkommenheit des Menschen nach dem Bilde Christi, zu dem zu wachsen, in das verwandelt zu werden die Bestimmung jedes Menschen und auch unsere Bestimmung ist. Rom 8,4: Was das Gesetz nicht erreichte, geschieht jetzt: „Die durch das Gesetz geforderte Gerechtigkeit wird erfüllt in uns, die wir … nach dem Geiste wandeln.“
Hier geht die christliche Ethik mit einem großen Kapital über den Dekalog hinaus, denn der Dekalog gibt beim besten Willen nicht positiv an, was in jedem Moment zu tun ist. In der Tat dürfen wir ständig eine „neue christliche Moral“ erwarten, weil der lebendige Gott nicht aufhören wird zu reden.
Die Einseitigkeit, mit der heute das eine Gebot der Liebe und die Situationsethik dem Dekalog entgegengesetzt wird, rührt daher, dass man auf lange Strecken in der Kirche die Weisung des lebendigen Gottes eben auf den Dekalog reduziert hatte. Redet Gott auch heute noch? Man glaubte es nicht. So lehnte man in der Dogmatik den Uhrmachergott des Deismus, der sich von seinem Werk trennt, nachdem er es in Gang gesetzt hat, ab – aber in der Ethik bekannte man sich zu ihm.
Erledigt sich aber der Dekalog, wenn er überboten wird? Abzulehnen ist es, wenn Theologen nicht mehr die Überbietung des Dekalogs entsprechend dem Neuen Testament, sondern die Antithese von Gebot und Liebe, alsdann die Verwerfung des Dekalogs lehren. Sie sagen nicht mehr: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, sondern: „Die Liebe geht ganz andere Wege als das Gesetz.“ Aber dieser Alternativsetzung dürfen wir nicht anheimfallen. Es geht nicht um eine Alternative von Gesetz und Freiheit, sondern um den Ausbau von Gesetz und Geist.
Weil der Dekalog die Ortsbestimmung für den Verkehr des Menschen mit Gott ist, deshalb bleibt er für uns alle gültig. Klaus Bockmühl
Glaube, der sich sehen lässt: Christsein im Spannungsfeld ethischer Entscheidungen Taschenbuch – 1993 von Christoph Morgner (Herausgeber)
Seite 37 Über die Geltung der Zehn Gebote heute. Eine Ortsbestimmung des Dekalogs Klaus Bockmühl Beiträge zur Begründung evangelischer Ethik, Gießen 1975, S. 50-59.