Minimalismus: Ballast abwerfen befreit!

Ein Tourist übernachtete in einem Kloster. Über die armselige Ausstattung der Zellen wunderte er sich, deshalb fragte er einen Mönch: «Wo habt ihr denn eure Möbel?» Der Mönch antwortete mit einer Gegenfrage: «Wo haben Sie denn Ihre?» Darüber wunderte sich der Tourist und sagte: «Meine? Ich bin doch nur auf der Durchreise!» Der Mönch lächelte: «Das sind wir auch.»
Alles was Du besitzt, besitzt irgendwann Dich“ (Zitat aus dem Film „Fight Club“)
Immer mehr Menschen entscheiden sich dafür, ihren Besitz radikal zu reduzieren. Dieser Trend heißt Minimalismus – ein Lebensstil, der sich als Alternative zur konsumorientierten Überflussgesellschaft sieht. Das Ziel ist, Alltagszwängen zu entkommen und dadurch ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu führen.
Vor allem in unserer westlichen Kultur haben wir über Jahrzehnte gelernt, dass es erstrebenswert ist, viel zu haben. Dass wir umso glücklicher sind, je mehr wir besitzen. Ob das nun Geld und andere materielle Dinge sind – oder auch Ruhm, Ansehen oder eine anderweitig gehobene gesellschaftliche Stellung.
Downgraden und Simplifyen
Eine wachsende Szene hat diese Haltung zu ihrem Lebensprinzip gemacht: Minimalismus, Downgrading, Simplify (freiwillige Einfachheit). Im Minimalismus sehen manche den neuen Lifestyle nach der Öko-Bewegung. Minimalismus steht für einen Lebensstil im Gegensatz zur konsumorientierten Überflussgesellschaft.
Der Trend ist aktuell, aber nicht neu. Zu allen Zeiten der Kulturgeschichte gab es querdenkende Verweigerer, die Suche nach Reduktion kennt viele Gestalten und Variationen.
Das einfache Leben und der Verzicht auf materielle Dinge lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen: Der kynische Philosoph Diogenes von Sinope (405-320 v. Chr.) gilt als Vorreiter der Minimalistenbewegung. Er lebte der Legende nach in den Säulengängen Korinths oder wahlweise in einem Fass, er besaß einen Wollmantel, einen Rucksack mit Proviant sowie einen Stock.
Nach einer Anekdote soll er seinen Trinkbecher und seine Essschüssel weggeworfen haben, als er Kinder aus den Händen trinken und Linsenbrei in einem ausgehöhlten Brot aufbewahren sah. Ernährt hat er sich von Wasser, rohem Gemüse, wilden Kräutern, Bohnen, Linsen, Oliven, Feigen und Gerstenbrot.
Sein Minimalismus gab ihm Seelengröße und Souveränität. Die zeigte er, als ihm eines Tages Alexander der Große die Aufwartung machte. Als Alexander den am Boden liegenden Diogenes fragte, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne, sagte Diogenes: »Geh mir aus der Sonne.«
Die Minimalisten-Szene ist vielfältig. Mal geht es um das religiöse Ideal der Genügsamkeit, wie es Papst Franziskus vorlebt, mal um antikapitalistische Konsumkritik, mal um die ganz einfache Sehnsucht nach alternativen Lebensformen.
Aus Amerika kommt die »Simplify«-Bewegung, zu Deutsch: »Vereinfache«. Das gleichnamige Buch stammt von Joshua Becker, der in Vermont lebt. Als er 2008 an einem Samstag im Frühling die Garage aufräumte, klagte er gegenüber seiner Nachbarin: »Je mehr Dinge du besitzt, desto mehr besitzen die Dinge dich.« Die Antwort der Frau verblüffte Becker. Sie sagte: »Das ist der Grund, warum meine Tochter eine Minimalistin ist. Sie sagt mir immer, dass ich das ganze Zeug nicht brauche!«
Die amerikanische Minimalistenbewegung geht auf David Thoreau zurück, der sich 1845 in eine Hütte in den Wäldern von Massachusetts zurückzog, um das einfache Leben zu finden. Er gab die schlichte Parole aus: »Vereinfachen. Vereinfachen.« Wie das vonstatten gehen soll, legte er in seinem Buch dar: »Walden. Oder das Leben in den Wäldern«. »Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde«, schrieb er.
In den USA ist einfaches Leben seither Teil der Subkultur. Als ideelle Vorläufer gelten auch religiös orientierte Gruppen wie die Amischen, eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft mit Wurzeln in der reformatorischen Täuferbewegung Mitteleuropas. Amische sind bekannt dafür, dass sie viele Seiten des technischen Fortschritts ablehnen und Neuerungen nur nach sorgfältiger Überlegung akzeptieren. Die Amischen legen großen Wert auf Gemeinschaft und Abgeschiedenheit von der Außenwelt.
Hilfreich: ist die digitale Revolution
Ohne die digitale Revolution am Beginn des 21. Jahrhunderts hätten es Minimalisten wesentlich schwerer. Ihr Leben verläuft zwischen mobilen Festplatten und Speichern im Internet, der sogenannten «Cloud» (Wolke). Ihre Musik-CDs finden sich auf Festplatten kopiert, ebenso ihre Film-DVDs und Fotoalben. Wichtige Dokumente werden eingescannt oder abfotografiert und stehen dann elektronisch zur Verfügung. Neue Musik kauft man sowieso nur im Netz. Die CD-Hersteller leiden bereits schwer darunter – der Verkauf ihrer Scheiben ist laut einem BBC-Bericht in den vergangenen sechs Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen, während sich im gleichen Zeitraum das Geschäft mit Musikdateien aus dem Internet vervierfacht hat.
Bücher besorgt sich der Minimalist ausschließlich elektronisch. Dazu bedarf es nicht einmal zwingend weiterer Geräte, denn auf jedem Computer lassen sich E-Book-Programme installieren. Und Klassiker der Literatur gibt es im Internet sogar kostenlos (projekt.gutenberg.de). Die zwei wichtigsten Überlebensfragen des Minimalisten lauten: Hat mein Computer noch Strom? Und: Habe ich von allen wichtigen Daten eine Sicherungskopie? Ein Festplattencrash im falschen Moment könnte das Leben eines Minimalisten auf einen Schlag höchst kompliziert machen, wenn ihm dadurch wichtige persönliche Dokumente dauerhaft abhanden kommen.
Das Handy als (Fast-)Nichtskönner
Die Anbieter elektronischer Geräte haben den Trend zur Vereinfachung erkannt und setzen dem Leistungswahnsinn und den Bedienungsanleitungen von mehreren hundert Seiten alternative Maschinen entgegen. So gibt es jetzt ein Mobiltelefon, mit dem man praktisch gar nichts machen kann.
«John’s Phone» heißt es, man kann weder Mails abrufen noch im Internet surfen, weder seinen Facebookeintrag aktualisieren noch die neuesten Tweets auf Twitter lesen. Nicht einmal Kurznachrichten (SMS) lassen sich mit diesem Handy verschicken. Ach ja, etwas kann das kleine, recht- eckige Maschinchen doch: telefonieren. Und das auch noch richtig lange. Der Anbieter verspricht eine Standby-Zeit von drei Wochen – in dieser Zeit hat sich ein Smartphone mit seinem energiefressenden Datenverkehr längst totgestrampelt. Dass der handliche (Fast-)Nichtskönner knapp 80 Euro kostet, fällt dagegen weniger ins Gewicht – Minimalismus hat seinen Preis.
Es gibt auch Pseudo-Minimalisten
Zahlreiche Ratgeberbücher sind bereits zum Thema Minimalismus erschienen. Der Soziologe Professor Kai-Uwe Hellmann von der TU Berlin glaubt aber, dass hierzulande nur eine winzige Minderheit von Menschen ernsthaft ihren Lebensstil nach minimalistischen Maßstäben ausrichtet. Zwar sei das Thema Konsumverzicht gerade sehr angesagt, viele würden aber eher auf Partys davon reden, statt tatsächlich danach zu handeln. „Dabei geht es mehr um Profilierung, Konformität und Anerkennung und weniger darum, sein Leben ganzheitlich-philosophisch umzugestalten.“
So wie man einen Musikgeschmack oder Weingeschmack habe, könne man auch einen Lebensstilgeschmack präsentieren. „Zu wissen, wie die Szene funktioniert, darüber ausgefeilte Reden zu schwingen, die entsprechenden Läden zu besuchen und die richtigen Bücher und Personen zu kennen, ist für viele der eigentliche Spaß daran.“
Vorbilder für den Minimalismus
Minimalismus sei nur eine von mehreren Formen des Unbehagens an der vorherrschenden Kultur, sagt Hellmann. Dieses Unbehagen werde gespeist durch die in der Gesellschaft herrschende Komplexität und Entfremdung sowie den sozialen Wandel. „Weitere Formen, dieses Unbehagen zu verarbeiten, sind zum Beispiel die Suche nach Innerlichkeit und Entschleunigung“, so der Experte.
Bewusste Konsumenten, Aussteiger und eine neue Generation
Professor Sascha Friesike von der Universität Würzburg befasst sich mit Innovationsmanagement. Er beobachtet, dass einerseits Unternehmen ein immer breiteres Sortiment an Waren entwickeln, um neue Bedürfnisse zu wecken. Auf der anderen Seite sieht er überforderte Verbraucher, die als Trotzreaktion entweder nostalgisch werden und auf altbekannte Produkte zurückgreifen oder den Konsum verweigern. Letztere verhalten sich zum Teil im Sinne von Minimalisten. Dabei teilt er diese kritischen Verbraucher in drei Kategorien ein:
1. Die erste Gruppe kauft nach dem Motto „less, best“ nur wenige, dafür aber umso hochwertigere Güter ein.
2. Andere tendieren in Richtung Aussteiger. Sie wollen bewusst mit möglichst wenig Geld auskommen, um dafür kürzer arbeiten zu müssen und mehr Freizeit zu haben.
3. Zur dritten Gruppe zählt er Millennials, also nach 1980 Geborene. In dieser Altersklasse gelten Statussymbole wie teure Uhren, Autos oder Häuser immer weniger. „Für sie zählen eher Erlebnisse wie Reisen, Events oder besondere Sporterlebnisse, zum Beispiel auf den Kilimandscharo gestiegen zu sein“, so Friesike.
Wie geht es weiter mit dem Trend Minimalismus?
Der Trend hin zu bewusstem Konsum und Minimalismus und weg von materiellen Statussymbolen könnte in den nächsten Jahren noch zunehmen, glaubt Friesike. Inzwischen wirke es für viele Menschen eher aufgesetzt, wenn jemand Luxusgüter wie Markenhandtaschen zur Schau stelle. Der Experte weiter: „Auch das Mitbringen von Souvenirs kommt aus der Mode, seitdem durch Smartphone und Internet Reiseerlebnisse fast in Echtzeit mit anderen geteilt werden können.“ Insofern vermutet er, dass es einen anhaltenden Trend weg vom Horten möglichst vieler Gegenstände geben wird.
Jesus – der vergessene Minimalist
Eine Person taucht in der Ahnengalerie der Minimalisten erstaunlicherweise fast nie auf: Jesus Christus. Dabei führte der Prediger aus Nazareth selbst für damalige Verhältnisse ein absolut aufs Wesentlichste reduziertes Leben (Jesus über sich: «Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.» – Lukas 9,58). Und auch seine Jünger schickte er bisweilen mit spartanischer Ausstattung in die Welt, ohne dass sie das als große Entbehrung erleben mussten. Was an Materiellem fehlte, wurde durch Gottvertrauen ausgeglichen. Der Evangelist Lukas berichtet: «Jesus sprach zu den Jüngern: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals.» (Lukas 22,35). Es ging also schon damals. Bei solchen Bibelversen müssten selbst radikalste Minimalisten unserer Zeit leuchtende Augen bekommen.