Kann man als
Vertreter der mittleren Generation, zu der ich gehöre, überhaupt über dieses
Thema schreiben oder gleicht man nicht dem Blinden, der von der Farbe redet?
Man darf, indem man zugrunde legt, was einem aus Gesprächen, Beobachtungen und
insbesondere aus der Heiligen Schrift an Erkenntnis zugewachsen ist. Man darf,
indem man sich der Unvollständigkeit des Ausgeführten aufgrund der fehlenden
persönlichen Erfahrung bewusst ist. Man darf in dem Wissen, dass der eigene
Umgang mit dem Alter die größere Herausforderung ist. Das Thema „Altern als
geistliche Herausforderung“ fragt nach dem Alter unter einer ganz bestimmten
Perspektive, der Perspektive des Glaubens. Was bietet der Glaube an den Gott
der Bibel an Hilfen für das Alter?
1. Das Alter annehmen Das Alter ist
ein Teil des Lebens, das Gott gegeben hat, unter den nicht immer einfachen
Bedingungen dieser Welt. Auch für diese Lebensphase gilt der Vers: „Meine Zeit
steht in deinen Händen“ (Ps 31,16). Die wörtliche Übersetzung „meine Zeiten“
hebt die Unterschiedlichkeit der Lebensphasen, die dieser Vers anspricht, noch
deutlicher hervor. Aber für jede Phase, egal wie sie geprägt ist, gilt eben:
sie ist in Gottes Hand. Für die meisten Menschen ist das Alter mindestens zu
einem gewissen Teil der schwerste Lebensabschnitt, in dem sich zu bewähren hat,
was man an geistlicher Einsicht und Weisheit im bisherigen Leben erworben hat.
Was nicht erworben wurde, lässt sich nur schwer, oft schmerzlich oder gar nicht
mehr nachholen. Das Schwere am Alter ist das Loslassen-Müssen. Die Kräfte
schwinden, die Abhängigkeit von Anderen wird größer, körperliche Beschwerden
nehmen zu, der Aktionsradius und damit die Möglichkeit zu Begegnungen werden
geringer, bei vielen stellt sich Einsamkeit ein. Das Alter entspricht in vielem
der Kindheit nur in umgekehrtem Verlauf. Wer dies grundsätzlich als von Gott
geordnet annehmen kann, wird sich leichter damit tun. Wer im Alter versucht,
all das nachzuholen, was bisher vermeintlich versäumt wurde, wird letztlich
unbefriedigt bleiben. Die Begrenzung der Möglichkeiten führt zu einem wichtigen
geistlichen Aspekt. Im Alter gilt es nochmals ganz neu zu buchstabieren, was
Gnade heißt: ohne eigene Leistung mit allen Zeichen des vergänglichen und
begrenzten Menschen ganz von Gott angenommen zu sein. Wer sein Leben bisher
über die eigene Leistung, evtl. auch die fromme Leistung, definiert hat, wird
den Verlust der Leistungsfähigkeit schmerzlich durchbuchstabieren müssen.
Gerade das schwächer werdende Leben ist vor Gott nicht weniger wertvoll, weil
dem alten Menschen seine Liebe nicht weniger gilt. Treffend kommt dies in Jes
46,4 zum Ausdruck: „Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch
tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich will heben und tragen und
erretten.“
2. Notwendige Regelungen treffen
Gemäß dem Lied „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ (EG 530,1) ist die Nähe des
Todes für jeden Menschen unsicher. Aber mit zunehmendem Alter rückt er
unausweichlich näher. Angesichts des näher rückenden Todes sollten die Dinge
geklärt und geordnet werden, die zu klären und zu ordnen sind und zwar solange
man es geistig und körperlich noch kann. „Lass mich beizeit´ mein Haus
bestellen“ (EG 530,4) ist kein ungeistliches Handeln, im Gegenteil (vgl. 1Mo
50,22-26; 5Mo 31,18; Joh. 19,25-27). David ist diesbezüglich ein schlechtes
Vorbild. Er hat die Nachfolgefrage nicht rechtzeitig geregelt. Die Folgen kann
man in 1Kön 1-2 nachlesen. Die notwendigen Regelungen können die Besitzverhältnisse
für die Erben (vgl. 1Mo 25,5-6) oder Versorgungs- und Vertretungsverhältnisse
(in juristischen, finanziellen und medizinischen Fragen) für die noch lebende
ältere Generation betreffen. Aber auch wichtige geistliche Anliegen können
weitergegeben werden (vgl. 1Mo 49; 5Mo 33; Joh. 13,31-17,26). Was steht den
Regelungen im Wege? Es kann – etwa in Erbfragen – der fehlende Mut zur
Entscheidung sein. Oder man will nicht wahrhaben, welche Stunde das Leben
geschlagen hat. Oder man tat sich immer schwer mit solchen Entscheidungen und
ihrer Kommunikation. Wer ein Ja zum Alter hat mit allem was dazugehört, wird
sich auch mit den notwendigen Regelungen leichter tun.
3. Das Verhältnis zur Vergangenheit
klären Ganz irdisch gesehen gilt: Die Jugend hat keine Vergangenheit und das
Alter keine Zukunft; die Jugend hat das Leben vor sich, das Alter hat das Leben
hinter sich; die Jugend kann die Zukunft erträumen, die Vergangenheit liegt
dagegen unveränderbar fest. Je älter man wird, umso größer wird der Anteil der
Vergangenheit, umso kleiner die noch zu erwartende Zukunft. Nur wer eine
persönliche Geschichte hat (der man sich erst bewusst werden muss), kann in
dieser Geschichte leben und über sie reden. Aus diesen Beobachtungen lässt sich
schließen, dass der Umgang mit der eigenen Vergangenheit im Alter eine wichtige
Rolle spielt. Dass der älter werdende Mensch zunehmend in seiner Vergangenheit
lebt und darüber spricht, ist zunächst verständlich. Er sollte sich aber
bewusst machen, dass es auch ungute Dimensionen annehmen kann. Dies ist dann
der Fall, wenn die Wirklichkeit der Gegenwart und der Zukunft (Tod) verdrängt
wird und deshalb die notwendigen Regelungen nicht getroffen und die
Wirklichkeit des Todes verdrängt wird. Eine weitere Gefahr besteht darin, die eigene
Vergangenheit zu idealisieren. „Früher“ war eben alles besser. Es besteht dann
die Gefahr, dass die Gegenwart nur am „Früher“ gemessen und von diesem Maßstab
her kritisiert wird. Die Idealisierung der Vergangenheit kann das Miteinander
der Generationen sehr erschweren. Die jüngere und mittlere Generation braucht
aber den Freiraum der eigenen Gestaltung und der eigenen Erfahrung, was auch
das Scheitern einschließt. Es gehört zum Altern, dass die Verantwortung in
jüngere Hände abgegeben wird, in dem Vertrauen, dass Gott auch die
nachwachsende Generation segnet. Der Optimismus der Jugend und der Pessimismus
der Älteren, der Mut, ja gelegentlich Überschwang der Jugend und die mahnende
Erfahrung der Älteren sollte zu einem positiven Ausgleich kommen. Noch ein
Punkt ist im Blick auf die Vergangenheit anzusprechen. Mit der eigenen
Lebensgeschichte liegt auch das Schwere, nicht verstandene Führungen Gottes und
eigene Schuld fest. Nichts kann mehr zurückgenommen und ungeschehen gemacht
werden. Älter werdende Menschen können unter diesen Lasten zunehmend leiden und
niedergeschlagen oder gar schwermütig werden. Wie aber damit geistlich umgehen?
Der Glaubende darf sein Leben zurückgeben in die Hand dessen, von dem es
gekommen ist. Die angemessene Reaktion ist dann der Dank für alles, was in
diesem Leben gut war. Das Schlechte, das Unverstandene und die Schuld aber
werden auf den gelegt, von dem es heißt: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und
lud auf sich unsre Schmerzen … Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet
und um unsrer Sünde willen zerschlagen“ (Jes 53,4-5). Wer Gott seine
Vergangenheit lassen kann, ist frei für die Gegenwart und die Zukunft auch und
gerade im Alter.
4. Von Gott noch etwas erwarten Auch
im Alter im Heute mit Gott leben ist eine wichtige und nicht immer einfache
geistliche Herausforderung. Dabei darf sich die Erwartung nicht darauf
beschränken, dass Gott diese Lebensphase so einfach wie irgend möglich
gestaltet. Die Erwartung sollte sich darauf konzentrieren, dass Jesus gemäß
seiner Zusage jeden Tag nahe ist und das zuteilt, was für mein Leben gut ist.
Das Ringen um die Gewissheit der Nähe Jesu unabhängig vom äußeren Ergehen ist
bei Vielen verbunden mit tiefen Anfechtungen, die sich in der biblischen Klage
gegenüber Gott einen Ausdruck verschaffen darf. Zur Gewissheit des Glaubens
kann man in der Anfechtung oft nicht selber gelangen. Hier hat die Gemeinschaft
eine tragende Bedeutung. Alte Menschen sollten sich, solange es körperlich
möglich ist, nicht aus der Gemeinschaft zurückziehen. Andererseits hat die
Gemeinde eine Aufgabe, die Alten, Einsamen, Kranken und Sterbenden nicht zu
vergessen und ihnen in der persönlichen Zuwendung die Nähe Jesu zuzusprechen.
Oft schleicht sich Unzufriedenheit über die begrenzte Kraft und
Leistungsfähigkeit ein. Im Heute leben bedeutet, dass ich mich selbst nicht mit
meiner früheren Kraft und Arbeitsfülle vergleichen muss. Was noch möglich ist
genügt. Aber mit dieser kleinen und kleiner werdenden Kraft kann ich auf andere
Weise Gott dienen. Viele alte Menschen nützen ihre Zeit zur Fürbitte, die ein
ganz wichtiger Dienst in der Gemeinde ist. Die zeugnishafte Weitergabe der
Lebens- und Glaubenserfahrung ist nicht zu unterschätzen. Für die große Zahl
rüstiger Senioren gibt es ein breites Betätigungsfeld. Dabei dürften aufgrund
des Umbaus der sozialen Sicherungssysteme auch überschaubare diakonische
Aufgaben zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Erwartungen erschöpfen sich
jedoch nicht in der Gegenwart. Christen können gerade auch im Alter bewusst mit
Gottes Zukunft rechnen. Die Angst vor dem Sterben und die Lasten des Alters
dürfen auch bei Christen nicht unterschätzt und verdrängt werden. Und doch
strahlt über diesem vergänglichen Leben der Glanz von Ostern. Gott hält in
seinem Reich ein Leben bereit, das frei ist von aller Vergänglichkeit und
Sündhaftigkeit. Durch Jesus Christus darf diese Zukunftsperspektive ergriffen
werden, sodass man gerade im Alter mit Paulus sagen kann: „Ich habe Lust, aus
der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein“ (Phil 1,23). Hartmut Schmid Zeitschrift
Theologische Orientierung Ausgabe 136 Oktober/Dezember 2004