Narzissmus als Erfüllung des Lebens?

Bedeutet geistliches Leben Welt flucht oder Anpassung, Selbstliebe oder Selbstverneinung? Unsere Erwartungen an das Leben wie unsere speziellen Existenzängste gehen letztlich auf den bewussten oder unbewußten Einfluß der jeweiligen Zeitströmungen zurück, denen Christen und Nichtchristen, gleichermaßen ausgesetzt sind ”” wie der legendäre Londoner Nebel, der selbst vor verschlossenen Türen nicht halt machte und alles durchdrang. Keiner von uns ist imstande, ein völlig steriles Leben zu führen und wenn es gelänge, wäre keine Kommunikation zur Umwelt mehr möglich. Die Welt, in der wir leben und uns als Bürger bewegen, ist jedoch keine «heile sondern Abbild einer in der Gesamtheit «gefallenen» Welt, so daß es sorgfältig zwischen «menschlichem» und «gefallenem» zu differenzieren gilt. Wenn Christen in der Gesellschaft leben und zu ihrem Wohlergehen beitragen möchten, bedeutet dies, in innerer Verantwortung und Anteilnahme, aber auch in kritischer Distanz zu ihr zu stehen. Als Menschen, die mit ihrer Kultur verbunden, aber dennoch nicht an sie gebunden sind, sind sie berufen, «in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein» (Joh. 17,9).

Inmitten einer Kultur des Narzissmus
Ständiger Veränderung unterworfen, präsentierte sich unsere westliche Kultur in jedem Jahrzehnt in einem anderen Gesicht. Unterschieden sich die siebziger Jahre bereits maßgeblich von den Sechzigern, so sind die achtziger Jahre von einer Kultur des Narzißmus gekennzeichnet. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffes geht auf die griechische Mythologie zurück. Im Drama «Narziß und Ophelia» steht ein gutaussehender, von Göttern und Menschen geliebter junger Mann im Mittelpunkt, den die Götter mit Echo, einem Kind der Hera, der Frau des Zeus, verheiraten wollten. Einziges Problem. des Mädchens war jedoch, daß sie außerstande war, eine normale Unterhaltung zu führen, sondern jeweils nur die letzten Worte des an sie gerichteten Satzes wiederholen konnte. So blieb ihr die Tatsache, ein schönes Mädchen zu sein – eine Nymphe. Eines Tages traf Narziß Echo im Walde, und da sie ihm gefiel, begann er eine Unterhaltung mit ihr, bei der sie jedoch lediglich die letzten Worte seiner Sätze wiederholte. Kurzum, obwohl sie sich ineinander verliebt hatten, zerbrach ihre Beziehung. Narziß verwarf sie, aber das beschwor wieder um den Ärger der Götter herauf, die auf ihrer Seite waren und sich gekränkt fühlten. In ihrem Zorn straften sie Narziß mit Selbstliebe. Sie bewirkten, daß er so unstillbar Gefallen an sich fand, daß er den ganzen Tag am Rand eines Tümpels lag, um sein eigenes Gesicht anzustarren. Eines Tages umarmte er sein eigenes Spiegelbild und ertrank. Dies erregte wiederum das Mitleid der Götter, so daß sie Reue empfanden und zum Gedenken an ihn an dem Platz, an dem er starb, eine Blume wachsen ließen – eine Narzisse, die nach dem Menschen benannt war, der dort so tragisch den Tod fand. Die zweite etymologische Wurzel des Begriffes Narzißmus finden wir in der Psychologie Freuds, der ihn als Beschreibung frühkindlicher Erlebnisse in der noch hilflosen Phase des Kindes gebraucht. Seiner Ansicht nach hat das Kind zu diesem Zeitpunkt noch keinen Bezug zur Außenwelt und wird von ihr völlig erdrückt, so daß es, manchmal mit Hilfe von Träumen oder dem Trost des Daumens, Zu flucht nach innen nimmt. Verfällt jedoch ein reifer Mensch wegen schwerer Lebenszustände in eine solche Haltung, sprechen die Psychologen von Narzißmus und bezeichnen damit eine ernste seelische Krankheit, die den Patienten völlig von der Außenwelt isoliert, und ihn nur noch krankhaft mit sich selbst und dem eigenen Wohl ergehen befassen läßt. Es handelt sich dabei nicht um normalen «Egoismus», sondern um eine krankhaft übersteigerte, unstillbare Selbstliebe, deren Begleiterscheinung ernste Kontaktschwäche bis hin zum Selbsthaß sind. Sehr oft hört man von solchen Patienten die Bemerkung: «Tief innen habe ich das Gefühl der Leere». Inwieweit dieses Phänomen unsere Zeit bestimmt, hat Christopher Lasch sorgfältig in seinem Buch unter sucht, dem er den Titel „Die Kultur der achtziger Jahre“ gab. Er schreibt dort: «Die Sechziger waren das Jahrzehnt der politischen Auseinandersetzung. In den Siebzigern jedoch umarmten die einstigen Radikalen die therapeutischen Wege der Selbstwahrnehmung und gingen in den religiösen Supermarkt der Westküste, in dem sie Gestalttherapie, Biogenetik, Rollenspiele, Jogging, moderne Tänze, Meditation, Akupunktur und Zen fanden. Aber heute, in den Achtzigern, sind wir so weit gekommen, daß wir uns im Spiegel der Behauptung von Jerry Rubin erkennen: „Ich habe es jetzt gelernt, mich selbst genug zu lieben, daß ich niemand anders mehr brauche, um mich glücklich zu machen,, 1. Er bezeichnet mit Narzissmus den Mangel echter, tiefer zwischen menschlicher Beziehungen, das schwindende bewußtsein für den historischen Moment der Gegenwart und die Abhängigkeit von Selbstdarstellung und Showeffekten. Auf alle diese Punkte werde ich im folgenden noch näher eingehen: Viele Leute klagen heute über den Verlust von Tiefe und Echtheit in ihren Beziehungen zum Mitmenschen, denen sie in Studium und Beruf und allgemein in der Gesellschaft begegnen. Sie kennen zwar oft sehr viele Leute, aber dennoch befriedigen sie diese oberflächlichen Kontakte nicht. «Alles erscheint mir wie ein riesiges Getriebe», sagte mir jemand, “in dem jeder ein Rädchen bildet, das sich, manchmal reibungslos, dreht. Aber was ist letztlich sein Sinn und Zweck?“ Wie sehr uns zudem das Bewusstsein für den gegenwärtigen historischen Moment fehlt, erkennen wir daran, daß wir nicht nur die Probleme der vierziger und sechziger Jahre (seine Kriege und Krisen), sondern die gesamte Vergangenheit vergessen möchten, obwohl ihre Schrecken das Leben uns nahe stehender Menschen, unserer Eltern und Großeltern, oftmals maßgeblich beeinflussten und zerstörten. An und für sich sollte die Vergangenheit etwas wie ein Polster sein, aus dem man neue Energien gewinnt, aber der moderne Mensch. hat das Bewußtsein für sie verloren. Er ist ruhelos am Werk, um seine Wünsche jetzt und in diesem Augenblick sofort zu erfüllen. Um noch einmal Lasch zu zitieren: «.„ der moderne Mensch ist ein zukunftsloses und ein vergangenheitsloses Wesen. Er wird in jedem Augenblick von neuem geboren.»2 Das dritte Merkmal des modernen Menschen ist die Empfänglichkeit für und die Abhängigkeit von Selbstdarstellung und Showeffekten. In unserer Gesellschaft sind weithin nicht mehr Können oder Charakter das Kriterium, um akzeptiert zu werden, sondern die äußere Wirkung. Selbst Politiker werden heute nicht mehr allein auf grund ihrer Fähigkeiten gewählt, sondern wesentlich ist, wie sie sich und ihre Leistungen präsentieren können. Hochkarätige Manager aus Industrie und Geschäftsleben haben Wege gefunden, sich und ihre Leistungen entsprechend hoch zu verkaufen; unsere Wirtschaftswelt ist ohne Werbung undenkbar und selbst das Bildungssystem ist oft zu Lasten der Persönlichkeitsbildung und des breiten Wissens dem Statusdenken und dem schnellen Erwerb von Titeln unterworfen, so daß unsere gesamte Gesellschaft auf äußere Wirkung, Selbstdarstellung und Showeffekte ansprechbar und davon abhängig geworden ist.

Der neue Mensch: unbeteiligt, passiv, gelangweilt – Zuschauer des Lebens
Das zeigt sich allein daran, daß wir persönlich zum Beispiel gar nicht gern Sport treiben, aber mit Interesse anderen dabei zuschauen. Wir selbst mögen auch in unserem eigenen Leben keine Gefühle der Freude und des Leids, der Reue und der Traurigkeit empfinden, folglich schauen wir uns „Dallas“ im Fernsehen an und bekommen so das Erlebnis über die Medien vermittelt. Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, die alle eines gemeinsam haben: Es fehlt der Wirklichkeitsbezug und die Tiefe. Mit anderen Worten. können wir sagen: Wir sind alle zu Zuschauern geworden. Richard Holloway schreibt: „Im Westen leben wir heute in einer Peepshowgesellschaft. Wir sind alle Zuschauer. Wir möchten den Reiz losgelöst von der menschlichen Beziehung. Wir möchten unsere Neugierde ohne Verpflichtung befriedigen“. Ein Peepshowbesucher möchte begrenzt zu sexuellem Genuß kommen, d.h. lediglich den gefühlsmäßigen Reiz konsumieren und teilweise seine Lust befriedigen, weil er sich aus Angst, die Beziehung könnte schief gehen, nicht binden möchte. Und so wird ein neuer Bürger geboren: unbeteiligt, passiv, eher stoisch, tief gelangweilt, ohne Erwartungen und für Überraschungen unzugänglich. Man hat diese Haltung psychologisch und soziologisch zu erklären versucht, wobei das zuvor erwähnte Buch von Christopher Lasch beide Interpretationswege miteinander zu verknüpfen sucht. Auf der einen Seite verwendet der Autor die Theorien und den von Freud geprägten Begriff Narzißmus – wobei zu bedenken ist, daß die Ursache dieser speziellen seelischen Krankheit mit Vernachlässigung, Abwesenheit oder schlechter Behandlung von seiten der Mutter angenommen wird, Parallel dazu zieht Lasch die Hypothese Marx heran, nach der der Mensch ein soziologisches Wesen ist und daher von der Gesellschaft, die seine große Mutter bildet, geformt oder zerbrochen werden kann. Er glaubt demzufolge, die Wurzel des Narzißmus in einer Gesellschaft finden zu können, die große Versprechungen macht, aber diese nicht einhalten kann. Der Untertitel seines Buches lautet daher: Das amerikanische Leben in einem Zeitalter schwindender Erwartungen.» Lasch führt hier sehr gute Beispiele für den Zerfall des Familienlebens und des Verwaltungsapparates unserer Gesellschaft an und erwähnt vor allem die Tatsache, daß die Menschen sehr lange der Utopie des Wirtschaftswachstums und der sozialen Sicherheit glaubten, die jedem Glück schenken würde. Der Zusammenbruch dieser Ideale habe Verwirrung, Enttäuschung, Haß und am Ende Apathie bewirkt. Vom biblischen Standpunkt aus können wir mit vielen Beobachtungen von Christopher Lasch über einstimmen, aber sie bringen uns noch nicht weiter. Während wir Lasch lesen, fragen wir nach den Gründen, die es überhaupt zu dieser Entwicklung kommen ließen. Warum kann ein moderner Staat nicht das tiefe menschliche Verlangen nach Glück erfüllen und warum ist eine dynamische Gesellschaft der Apathie erlegen? Weder die Psychologie noch die Soziologie können letztlich in der Antwortfindung auf diese tieferen Fragen weiterhelfen, so daß wir uns zu ihrer Klärung an Gottes Offenbarung wenden müssen. In der biblischen Heilsgeschichte finden wir eine Fallgeschichte, die bei Anwendung auf unsere westliche Gesellschaft wesentliche Hintergründe erhellt. Es handelt sich hier um das Beispiel des ersten Königs Israels – Saul. Seine Lebensgeschichte spiegelt eindrücklich die Problematik des modernen Menschen wider. Zuerst erweckte Saul unter den Israeliten messianische Hoffnung. Er war ein schöner, gut aussehender Mann: «Und es war niemand unter den Kindern Israel so schön wie er» (1. Sam. 9,2). Am Ende jedoch, in einer durch Rebellion und Ungehorsam gegen Gottes Willen selbst verschuldeten Phase der Gottesferne, verfiel er in die Haltung des modernen Menschen – den Narzißmus. Das zeigt sich besonders in seinem Verhältnis zu David. Solange dieser noch ein harmloser junger Mann war, der auf der Laute spielte, wenn Saul Depressionen hatte, gab es keine Probleme zwischen ihnen. Aber von dem Tag an, als er die Leute auf der Straße sagen hörte: Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend» (1. Sam. 18,7), haßte er David. Er feilte nur noch an seiner Selbstdarstellung herum und wurde immer depressiver. Äußerer Glanz ging mit innerer Leere einher, bis Saul ähnlich wie Narziß schließlich im Selbstmord endete. Die Geschichte Sauls erhellt die Geschichte unserer westlichen Kultur, da viele Zitate aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert von ungeheuren Zukunftserwartungen der Leute zeugen. Manchmal wurde direkt messianische Terminologie verwandt: Wir sind berufen, das neue Israel zu sein, und Wissenschaft und Technik werden uns mit den Möglichkeiten zur Errichtung einer neuen Welt ausrüsten. Ist das Wahrheit geworden? Nein, leider nicht und Lasch hat recht, wenn er dies beobachtet. Die Antwort, die er uns dennoch schuldig bleiben muß, finden wir, wenn wir uns wieder der Schrift zuwenden und untersuchen, wo Saul einen entscheidenden Fehler beging. Im Anfang kämpfe er wirklich einen guten Kampf – in 1. Samuel 11 befreite er die Einwohner von Jabesch, aber er schreibt sich diesen Erfolg nicht selbstherrlich allein zu: «Denn der Herr hat heute Heil gegeben in Israel» (1. Sam. 11,13), lautet sein abschließendes Wort. Wir können je doch eine allmähliche Veränderung bei Saul beobachten, die am deutlichsten im Bericht des Kampfes gegen die Amalekiter zutage tritt, der in Kapitel 15 aufgezeichnet ist. War es ihm früher gelungen, sie nieder zuschlagen, weil der Herr ihm Kraft zum Sieg gegeben hatte, rühmt sich Saul hier selbst dafür, geht zum Karmel und errichtet sich ein Denkmal (1. Sam. 15,12). Daraufhin wird der Prophet Samuel mit der Botschaft zu Saul gesandt: «Der Herr hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem anderen gegeben, der besser ist als du» (V. 28), Von diesem Tag an wandelt sich Saul in einen ichbezogenen, manchmal gelangweilten, ärgerlichen Mann, ‘dem es, tief verunsichert, manchmal sentimental, allgemein nicht mehr gelingt, gesunde menschliche Beziehungen aufzubauen und zuerhalten – selbst nicht mehr zu seinem eigenen Sohn Jonathan. Gleichzeitig dreht er sich im Zirkel von Selbstliebe und Selbsthaß. Seine Geschichte verdeutlicht, daß hier die entscheidende Wende liegt. Sauls Leben und Einstellung veränderten sich genau zu dem Zeitpunkt, als er sich selbst zum Mittelpunkt der Welt machte, d.h. sich selbst ein Denkmal setzte, anstatt wiederum zu sagen: «Heute hat der Herr Befreiung geschenkt».Auf ganz subtile Weise nahm unsere westliche Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts den gleichen Verlauf. Führende Denker und Politiker begannen zu sagen; «Der Mensch ist autonom, Wir können die Probleme mit unserer eigenen Vernunft lösen,» Anstöße kamen zunächst aus deistischem Lager, daß der Mensch so leben müsse, als ob Gott nicht existierte (si deus non daretur) und infizierten bald den gesamten Strom von Gesellschaft und Kultur. Einige Jahre später wünschte sich der führende Philosoph Ludwig Feuerbach die Grabinschrift: Homo hornini deus (der Mensch ist der einzige Gott des Menschen). Von diesem Tag an durchdrang der Atheismus die westliche Kultur. Zurück zu Saul möchte ich nochmals auf einige sehr eindrückliche Punkte eingehen. Sicherlich war Saal von tragischem Erleben betroffen, aber der Prophet geht nicht näher darauf ein, da er ihn augenscheinlich voll dafür verantwortlich hält und ihm daher sagt: «Gehorsam ist besser als Opfer». In der griechischen Mythologie haben wir es mit einer literarischen Tragödie zu tun, die Freud auf greift, wenn er den modernen Menschen als Narziß bezeichnet. Narziß bleibt jedoch allenfalls eine tragische Figur, da er als willenloses Opfer für sein kleines Versagen harter Strafe ausgesetzt ist. In der Bibel ist es anders. Nicht nur haben wir es bei Saul mit einer realen Gestalt zu tun, sondern Samuel hält Saul für voll verantwortlich und ruft ihn zur Buße auf, weil er weiß, daß der Gott Israels ein gnädiger Gott ist, der immer bereit ist, seinem Volk eine neue Gelegenheit zu Umkehr und Neubeginn zu gebe
n. Es ist zudem bemerkenswert, daß Saul nur dann Befreiung von seiner depressiven Stimmung erhielt, wenn er der Musik Davids zuhörte – dem wahren König. Wenn David spielte, fand Saul Erleichterung (1. Sam. 16,23). Ist das nicht erstaunlich und tröstlich, welche wunderbare Wirkung Davids Psalmen auf den seelisch Gestörten hatten? Die Begegnung von Sau! und Samuel Sendet schließlich in 1. Samuel 15 mit der Feststellung; «Und Samuel sah Saul nicht mehr bis zum Tage seines Todes» (V. 35). Weder frostiges Verurteilen noch herzlicher Abschied geschehen bis zu diesem letzten Tag, an dem Samuel über Saul Leid trug. Daran, erkennen wir, welch tiefes Mitleid Samuel für den Mann empfand, den er so sehr liebte. Anhand dieses Beispiels lernen auch wir, wie wir uns gegenüber Mitmenschen verhalten sollen, die in Narzißmus versunken sind: Barmherzigkeit, Verantwortung und das Spielen der Musik Davids auf der Laute sind die drei Schlüsselworte. Im aktuellen Fall sind dies die Antworten, auf die etwa folgenden existentiellen Fragen jener Menschen um uns, die Opfer des Narzißnius wurden:

Ist jede Art von Selbstliebe falsch?
Wie begegnet man dem gesamten Phänomen? Wie kann man Tiefe und Realität in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren? Ist es unvermeidlich, eine Maske zu tragen? Sollten Menschen, besonders Christen, ihre Schwachheiten verbergen? Nach welchen Maßstäben sollen wir leben? Als Antwort auf diese berechtigten Fragen sollten wir den modernen Sauls die Musik Davids bringen.

Befreiung von Narzissmus
Nicht die Christen, ihr Leben und ihre Art zwischenmenschlicher Beziehungen sind Maßstab und Hilfe, um von Narzißmus, Trübsinn und Selbsthaß frei zu werden, sondern dementgegen wird ein echter Christ daran zu erkennen sein, daß er seinen Zeitgenossen dazu verhilft, der Musik des «Sohnes Davids zuzuhören – Jesus Christus, der allein durch sein Leben und Werk Befreiung und Erleichterung schaffen kann. Das möchte ich nicht als einleitende Bemerkung, sondern als Grundsatz verstanden wissen, da nur so eine echte Bewältigung des Problems des Narzißmus gewährleistet ist: Voraussetzung für echte Befreiung ist die bewußte Abwendung von der Selbstverwirklichung, d.h. Vergötzung meines eigenen Ichs und die bewußte Hinwendung zu Gott, dem Vater Jesu Christi, der wieder das Zentrum meines Lebens einnehmen soll und dem ich im Gehorsam dienen möchte. Die Hilfe liegt im Bruch mit der Egozentrik und im bewußten Ja zu einem christuszentrierten Leben – d.h. in einem radikalen Herrschaftswechsel. Bedenken wir noch einmal, woran Saul scheiterte: Es war schlußendlich die Tatsache, daß er sich nur noch selbst anbetete und sich nach ersten unmerklichen Schritten schließlich ganz von Gott entfernte. David hingegen war ein Mann Gottes – nicht, weil er so religiös, brilliant und fromm war, sondern, weil er trotz allen Versagens und Schuldigwerdens vor Gott, immer wieder den Herrn zum Zentrum seines Lebens machte und alle Sünde vor ihm offen bekannte. So ist auch heute echte innere Befreiung und sinnvolles Leben nur möglich, wenn wir mit ganzer Überzeugung Jesu Person und Werk zur Grundlage unseres Lebens machen und dem Kreuz für unsere Verzweiflung, für unser Verhaftet sein an Schuld und Tod persönlich vertrauen. Mit diesem Kern seiner Botschaft hinterfragte Jesus damals seine Zeitgenossen und auch uns heute: «Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmt und die Ehre von dem alleinigen Gott nicht sucht?» (Joh. 5,44). Und als der erste Mensch, sein Jünger Petrus, ihn als den Messias bezeugte, entgegnete er ihm: «Gesegnet bist du Simon, Sohn Jonas, denn Fleisch und Blut haben dir dies nicht offenbart, sondern mein Vater, der in dem Himmel ist» (Matth. 16,16). Mit dieser auf Gott verweisenden Antwort gibt Jesus als Sohn Gottes Modell für unser Verhalten. Er sagt nicht: «Das ist jetzt endlich mein Erfolg, die Bestätigung meiner Arbeit. Nein, er gibt die Ehre seinem Vater im Himmel, dessen Gabe es ist und der ihn als Mensch und Erlöser auf diese Erde gesandt hat. Die Bibel bestätigt, daß die Selbstliebe ein Merkmal unserer Zeit und Generation ist, die als Endzeit der Wiederkunft Jesu vor angeht. Wir sollten daher die Worte des Apostels Paulus bedenken: «Dies aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere Zeiten eintreten werden, denn .» und dann zeichnet er ein Charakterbild des Menschen in der Endzeit, deren erstes Kennzeichen ist, selbstsüchtig zu sein, im Griechischen «autofilioi», da sie sich buchstäblich in sich selbst verlieben werden (2. Tim. 3,1-5; vgl. 2. Petr. 2,14). Befreiung aus dieser letztlich zerstörerischen Fehlhaltung zu sich selbst kann nur durch den Willensentschluß geschehen: weg von der Selbstliebe zur Liebe Jesu und zur Liebe des Vaters, weg von der Selbstanklage zur Klage meiner Schuld und Selbstsucht unter dem Kreuz, da Jesus Christus sie mir abnehmen will, weg vom Zwang der Befriedigung meiner eigenen, nie zu stillenden Lüste hin zum Gehorsam und hin zum bewußten Leben nach dem Gefallen und Willen Gottes, der mich durch seinen Geist verändern und dazu befähigen möchte. Natürlich stellen sich hier die Fragen: «Ist im christlichen Leben kein Platz mehr für die Selbstliebe und die Verwirklichung meiner eigenen Interessen und Wünsche? Sollen wir den Narzißmus etwa mit Altruismus bekämpfen?» Hier ist es sehr wichtig zu einem gesunden «Selbstverständnis» zu kommen, das der Bibel und nicht bestimmten persönlichen oder kulturellen Vorstellungen einzelner christlicher Gruppierungen entspricht; denn viele Christen haben leider in ihrem Leben eine Art von Musik gespielt, die alles andere als schön und anziehend war. Ich denke da an die abschreckende puritanische Art der Selbstverleugnung des Körpers und der Betonung der Entsagung. Oftmals wurde eine solche Fehlhaltung mit dem Wort Jesu begründet: «Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst.» Wir alle wissen, daß dies regelrecht zu einer Persönlichkeitsverarmung und -einschränkung führte. Wir begegnen auch oftmals Christen, die ihre Gefühle asketisch unter drücken und Freude an der Leiblichkeit nicht aufkommen lassen, weil sie dies unter den Bereich der Sünde zählen. Dies läßt Freude an den eigenen gottgegebenen Fähigkeiten, an meinen Körper und meinen Gefühlen vermissen und wird ernste Folgen für den betreffenden Menschen und seine Umwelt haben. Doch eine solche Haltung ist keineswegs biblisch, sondern platonisch. Wenn Christus uns aufforderte, uns selbst zu verleugnen, meint er damit nicht, daß wir uns selbst verneinen sollen. Gerade das Gegenteil war seine Absicht Weil wir so kostbar sind und Gottes Reichtum in uns tragen, sollen wir den größtmöglichen Fehler vermeiden, alle diese guten Gaben als Selbstverherrlichung anstatt als Geschenk und Talent des Herrn zu verwenden, Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Wir sollen alle Bereiche unseres Lebens, unseren Körper, unsere Gefühle und unseren Verstand als Gabe Gottes sehen. Mit biblischen Worten ausgedrückt heißt dies: «… freue dich, junger Mann, in deiner Jugend und dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugendzeit, und wandle in den Wegen deines Herzens und im Anschauen deiner Augen, doch wisse, daß um dies alles Gott dich ins Gericht bringen wird» (Pred. 11,9-10). In der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist sehr viel Raum für Lebensfreude und Persönlichkeitswachstum. Wo liegen die Grenzen? Wo muß die «Eigenliebe» des Christen enden? In der Tat versteift sich ein Christ nicht auf die Position, daß alles, was im Bereich seines Körpers und seiner Gefühle geschieht, rein und schön sei, da wir Teil der gefallenen Menschheit sind – und folglich die Sünde sehr viel Schmutz und Schuld in unserem Wesen anrichtet. Wie sollen wir zu diesen offensichtlichen Schwachstellen stehen? Im körperlichen, seelischen und moralischen Gebiet herrschen jeweils wieder andere Probleme und Fragestellungen vor, so daß ich für jeden Bereich gesondert antworten möchte: Im körperlichen Bereich müssen wir uns vor allem dort akzeptieren, wo wir uns besonders schwach meinen z.B. unsere mangelnde körperliche Kraft, unser schwaches Nervensystem, unsere erbliche Nervosität, unser spezielles Temperament. Auch hier sollten wir akzeptieren lernen, daß wir in einer gefallenen und nicht in der paradiesischen Welt leben. Wenn wir uns mit unseren Schwächen und Grenzen annehmen, weil Christus uns durch sein Kreuz und die Neuschöpfung bereits angenommen hat, so ist Raum für Wachstum gegeben. Gerade indem sie lernten, mit ihren Schwachheiten zu leben, haben viele Menschen entdeckt, wie die Schwächen oft ihre Stärken wurden.

Geistlicher Kampf
Für die Schwächen auf psychischer Ebene möchte ich das Wort «Kampf» nennen, da wir in der ständigen Auseinandersetzung mit unseren persönlichen psychologischen Schwächen stehen. Ich denke da an das Bemühen, das Paulus in Römer 7 beschreibt. Es sollte nicht so sein, aber die Wirklichkeit sieht so aus, daß wir das ganze Leben gegen unser negatives Wesen und unsere sündhaften Veranlagungen an kämpfen müssen, die in Eifersucht, Stolz, Empfindlichkeit, Minderwertigkeitsgefühlen etc. zum Ausdruck kommen. «Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich» (Röm. 7,19). Doch dieser Kampf wird uns nur gelingen, wenn wir «in Christus sind, d.h. bewußt seine Kraft und Vergebung in Anspruch nehmen und immer wieder im Gebet zu ihm kommen: «Danke Herr, daß du mich bereits gerechtfertigt, geheiligt und in dir vollkommen gemacht hast. Hilf mir nun, daß ich mit meinem Leben deine Musik weitergebe …» Auf moralischem Gebiet hat der Herr die Selbstliebe schließlich durch ein Gebot eingegrenzt. Er sagte nicht: «Du sollst dich nicht selbst lieben», sondern «liebe deinen Nächsten wie dich selbst». Auf diese Weise wird deutlich, daß wir nicht um Selbstliebe kämpfen, sondern sie einsetzen sollen.
Stehen wir zunächst einmal zu der objektiven Tatsache, daß wir uns selbst lieben, um dann in diesem Bewußtsein den Nächsten wie uns selbst zu lieben. Auf diese Weise steilen wir sicher, daß unsere Selbstliebe frei von Narzißmus ist, da dies wiederum unsere Beziehung zu unserem Mitmenschen hemmen würde. Ich möchte mit einem Zitat aus Pascals Pensees enden; «Wir geben uns nicht mit dem Leben, das wir für uns und als unser eigenes Dasein leben, zufrieden: wir wollen in der Vorstellung der anderen ein Scheinleben führen und deshalb bemühen wir uns zu scheinen.» Hier entdecken wir wiederum den Narzißmus im Bemühen, vor den Augen der anderen ein Scheinleben zu führen. Pascal trennt beide Lebensformen; unser Scheinleben und unser wirkliches Leben, und führt weiter, aus: «Unaufhörlich arbeiten wir daran, unser wahngebildetes Sein zu verschönern und zu erhalten, und wir vernachlässigen das wirkliche. Und wenn wir ruhigen Gemütes, oder großzügig und treu sind, bemühen wir uns, es wissen zu lassen, damit man diese Tugenden unserem Schattendasein (das wir in den Augen der anderen führen möchten) anheftet, und eher werden wir uns von ihnen selbst trennen, um sie dem anderen zu verleihen. Leichten Herzens wären wir Feiglinge, nur um dadurch den Ruf, ein Held zu sein, zu erwerben. Gewaltiges Zeichen der Nichtigkeit unseres eigenen Seins ist, daß wir nicht zufrieden sind mit dem einen ohne das andere und oft das eine für das andere eintauschen.»5 Ich hoffe, daß dieses Zitat noch einmal die Wichtigkeit herausstellt, daß wir unsere Selbstliebe und Selbstannahme auf dem Felsen, der Christus heißt, verankern und bauen. Denn allein durch Jesus Christus als Herr unseres Lebens ist es möglich, in echten Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu stehen. Nur durch ihn wird es gelingen, zu einem gesunden Verhältnis zu sich selbst zu finden und ein anziehen des anstatt abstoßendes, zerstörerisches Selbstbewußtsein zu entwickeln. Weil er mich auf der Grundlage seines stellvertretenden Erlösungswerkes so annimmt, wie ich wirklich und in meinem eigentlichen Dasein bin, brauche ich nicht länger in ein Schatten- und Scheindasein zu flüchten. Er zeigt uns auch, wie wir echte und reale zwischenmenschliche Beziehungen knüpfen und gestalten sollen. Dies wird oftmals von uns erfordern, daß wir mit dem Motiv der Liebe hinter die Maske, hinter die Fassaden blicken und sie manchmal entfernen müssen (Joh. 4; Luk. 19, 1-10). Es heißt zudem, daß wir als Christen in jedem Fall zwischen Perle und Schmutz zu unterscheiden wissen, da Jesus die Menschen wie Perlen im Schmutz betrachtet und uns anwies, die Perle zwar zu lieben, den Schmutz jedoch zu hassen. Schließlich werde ich die Menschen nur dann näher kennen lernen, wenn ich bereit bin, mich mit ihnen zu identifizieren, d.h. ihre Situation aus ihrer Sicht zu verstehen – so wie Jesus sich als Sohn Gottes mit uns identifizierte und zu uns herabkam. Auf diese Weise werden wir selbst an Persönlichkeit und Charakter zunehmen, aber auch am Selbstbewußtsein gestärkt im Wissen um die eigene Bedeutung vor Gott ruhen. Wenn wir in unserem Alltagsleben, in der Realität der Welt, diesen Grundsätzen. folgen, wird uns zwar kein erfolgreiches, leichtes Leben verheißen, aber wir werden auf jeden Fall in der Wirklichkeit stehen und um die Hilfe wissen, wie wir sie bestehen können. Und allein mit dieser realen und neuen Sicht von uns selbst und anderen wird es gelingen, die Macht und Fessel des Narzißmus anzugehen und zu durchbrechen. Faustregel und Voraussetzungen bleiben jedoch, und das gilt es sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen,, wenn wir dies erfahren und praktizieren wollen, daß wir die Musik des «Sohnes Davids» als Befreiung unserer uns drückenden Schuldenlast am Kreuz persönlich in Anspruch genommen haben und immer wieder nehmen, um sie dann durch unser Leben nicht als unsere eigene wohlklingende Botschaft, sondern als seine Musik weiterzugeben.

W. Rietkerk

factum Juni 1985 Übersetzung: Hildegund Beimdieke
Quellenangaben
1 Christopher Lasch «The Culture of Narcissism: American Life in an Age of Diminishing Expectations» (New York Norton – 1979) Seite 4
2 ebd. Seite 3
3 Richard Holloway «Beyond Belief:The Christian Encounter with God» (Grand Rapids ”” Eerdmans – 1981) Seite 3
4 Blaise Pascal «Gedanken» (Stuttgart -Reclam – 1978) Seite 56
5 ebd.

http://www.factum-magazin.de/wFactum_de/

Ein Gedanke zu „Narzissmus als Erfüllung des Lebens?

  1. Hallo,
    Habe durch Zufall diese alte Übersetzung von mir gelesen. Die Beiträge von Labri sind wirklich gut gewesen und finden sich in dem Buch „Existiert Gott“ von Wim Rietkerk. Gehört ihr als Bibelkreis zu einer Gemeinde oder in welchem Rahmen trefft Ihr Euch.
    Grüsse
    H. Beimdieke

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