In seiner Schrift „Scholia in Epistolam Pauli ad Collossenses“ von 1527 (1) hat sich Melanchthon (2) ausführlich zur Stellung der Vernunft und auch zu ihren Grenzen geäußert. Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist die Warnung des Paulus an die Kolosser (2,8), sich nicht „durch Philosophie und leeren Trug“ einfangen zu lassen. Ihm seien Menschen bekannt, die diese Stelle dazu missbrauchen, um grundsätzliche Vorbehalte gegen denkerische Betätigung anzumelden, „als bestünde die christliche Religion in nichts anderem als tiefster Unwissenheit“. Dem stellt Melanchthon die „Ratio“ als „Geschenk Gottes“ gegenüber, die allein deshalb zu gebrauchen und auszubilden, sorgfältig zu verfeinern sei. Er stellt die Nützlichkeit von Redekunst, Rechtswissenschaft und Medizin heraus, verteidigt aber auch ausdrücklich die Naturwissenschaften. Wenn Paulus die Erkenntnis der Natur im Römerbrief als „Wahrheit Gottes“ bezeichnet (3), dann sei es geradezu eine „Verrücktheit“, Christen von der Erforschung der Schöpfung abhalten zu wollen. „Denn was können Menschen edleres besitzen als Wahrheit“? Dass Naturwissenschaft dem Glauben widersprechen könnte hält der Reformator für ebenso „töricht“ wie die Behauptung, „das Schneiderhandwerk widerstreite dem Christentum“. Auch die Philosophie erfährt ihre Würdigung, wobei wahre Philosophie für Melanchthon nur dann vorliegt, wenn Behauptungen auf tragfähigen Schlussfolgerungen beruhen: „Ich bestreite nicht, dass sich in den Erörterungen der Philosophen vieles findet, was nicht nur der Religion fremd, sondern auch falsch ist und der natürlichen Vernunft widerstreitet. Gar manches wurde aus fehlender Einsicht ohne tragfähige Begründung geschrieben. Die meisten hat Gott ihren Spinnereien überlassen, um deutlich zu machen, dass ohne den Hauch seines Geistes und die Leitung durch sein Wort die Wahrheit nicht einmal bei der Erforschung natürlicher und weltlicher Problembereiche in den Blick kommt. Paulus sagt, sie seien, weil sie Gott nicht verherrlicht hätten, verblödet.“ Nicht nur Philosophie, auch Naturwissenschaft wird zur „Spinnerei“, wenn sie sich loslöst von Gottes Geist und Wort. Kann die Vernunft als solche also schon bei natürlichen Sachverhalten ohne göttlichen Beistand wenig ausrichten, so gilt dies erst Recht für die Beurteilung geistlicher Sachverhalte, speziell für die Auslegung der Heiligen Schrift. „Wenn aber die menschliche Vernunft als solche, d. h. die Philosophie über den Willen Gottes urteilt, dann irrt sie in der Regel“. Melanchthon nennt drei Beispiele. Wer regiert die Welt? „Zuerst irrt die Vernunft zur Frage der Weltregierung“. Hier erteilt Melanchthon dem Deismus (etwa nach Leibniz) eine klare Absage. Gott ist kein Uhrmacher, der mit der Welt ein Uhrwerk in Gang setzt, das seitdem von selbst weiterläuft, kein „Handwerker, der nach Vollendung eines Bootes einfach weggeht und es den Fluten überlässt“. Gott ist nicht nur Schöpfer, er „lenkt wie der Steuermann das Schiff“. Dies wird durch „gewisse und deutliche Sätze“ der Schrift belegt. So sagt etwa Jesus (Joh 5,17): „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch“ und der Apostel Paulus erklärt den Athenern (Apg 17,27f.): „Fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir.“ Was aber hat die Vernunft hiergegen einzuwenden? Es ist die Theodizee-Problematik, die „Wie-kann-Gott-das-zulassen?“-Frage (die der Reformator hier durchaus als „vernünftig“ einstuft), nimmt doch die Vernunft „Anstoß daran, dass auf der Welt soviel Ungerechtigkeit geschieht“. Statt eine „vernünftige“ Entgegnung zu suchen, wird diese Schlussfolgerung schlicht und einfach mithilfe der Aussagen der Schrift zurückgewiesen, denn „der irdisch gesonnene Mensch begreift nicht, was Gottes ist“ (1Kor 2,14). Das ist reformatorisch folgerichtig, gilt doch die Heilige Schrift bei Melanchthon als vierte und für Christen entscheidende „Gewissheitsnorm“ (4), in deren zustimmender Aufnahme sich der Glaube vollzieht. Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Frage, die Luther so umtrieb, ist nicht von der Vernunft allein zu beantworten. Denn „die Philosophie irrt in der Frage der Rechtfertigung, wenn sie die bürgerliche Gerechtigkeit als vor Gott zureichend feststellt“ (eine „vernünftige“ Begründung dieses Standpunktes liefert Melanchthon nicht, er scheint ihn vielmehr als bekanntermaßen typisch einzuschätzen). Genauso wenig, wie die Bienen aufgrund ihrer natürlichen guten Eigenschaften (die Klugheit, mit der sie ihren Staat bauen, das Recht, aufgrund dessen sie ihrer Königin gehorchen, die Tapferkeit, mit der sie gegen die Drohnen kämpfen sowie ihre Mäßigkeit) als Christen bezeichnet werden können, so wenig verhilft den Menschen ihr sittliches Verhalten zu einem gnädigen Gott. Vielmehr lehrt die Schrift, dass die Gerechtigkeit vor Gott in dem Glauben an Christus besteht, damit sich niemand vor Gott rühmen kann (vgl. etwa Röm 3,28; 1Kor 1,30ff.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass weltliche Gerechtigkeit verzichtbar wäre. Auch das Christentum fordert diese und lässt die „Vernunft, die uns in bürgerlichen Sitten unterweist, ebenso gelten, wie es die weltliche Obrigkeit gelten lässt und sich als ihr Urheber bezeugt“. So können sich im Erziehungskonzept Melanchthons Erziehung und Evangelium verstärken. Die Erziehung im Evangelium führt verbunden mit dem Heiligen Geist zur Einsicht in die geistliche Gerechtigkeit, aus der wiederum die Notwendigkeit zur bürgerlichen Gerechtigkeit folgt, die das zweite Hauptziel der Erziehung darstellt. Wie weit kommt man ohne Gott? „Drittens irrt die Philosophie mit der Meinung, die Vernunft habe aus sich selbst zureichende Kräfte gegen die Sünden“. Auch hier haben wir es wieder mit menschlicher Selbstüberschätzung zu tun, die nicht wahrhaben will, dass „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf“ (1Mose 8,21). Die Vernunft kann die Notwendigkeit des Heiligen Geistes nicht erkennen, der das Herz reinigt und leitet. „Ohne mich“, sagt Jesus, „könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15,5). Dies zu begreifen und anzuerkennen, fällt dem natürlichen Verstand nach wie vor schwer. Melanchthons Schrift kann helfen, zwei ungesunde Extreme zu vermeiden. Weder sollten wir vernünftiges Nachdenken verachten (weil die Vernunft als Gabe Gottes ernst zu nehmen ist), noch sollten wir die Werke dessen mit der Vernunft richten, dessen Gedanken höher sind als unsere (Jes. 55,9) – was für die Gläubigen nach Melanchthon „einen starken Trost“ bedeutet. Die Vernunft findet so ihre Grenzen in der Offenbarung Gottes, von der sie geleitet werden muss, da sie sich sonst sehr leicht verführen lässt („… wie oft Diogenes gegen die Natur verstoßen hat, ist bekannt“). Auf diese Weise sollten wir „in rechter Weise Vernunfteinsicht und Prophetie auseinanderhalten und unterscheiden, wozu uns jede unterweist“.
Anmerkungen
1 Zitate im Folgenden aus R. Stupperich (Hrsg.), Philipp Melanchthon: Werke in Auswahl, Gütersloh, 1951–75, IV, S. 230–243. Die deutsche Übersetzung folgt der Textsammlung Günther R. Schmidt (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Glaube und Bildung, Stuttgart, 1989, dort S. 34ff.
2 In diesem Jahr wird der 450. Todestag des Reformators begangen. Wer sich dem häufig wenig bekannten Mitstreiter Luthers nähern möchte, dem stehen zahlreiche Biographien zur Verfügung, etwa von Martin Jung (Philipp Melanchthon und seine Zeit, Vandenhoek & Ruprecht, 2010), von Martin Greschat (Philipp Melanchthon, Gütersloher Verlagshaus, 2010) oder der eher für Fortgeschrittene geeignete Klassiker von Heinz Scheible (Melanchthon, Beck-Verlag, 1997). Einen guten Überblick über die Schriften des Reformators bietet das zweibändige Werk Melanchthon deutsch der Evangelischen Verlagsanstalt.
3 Hier bezieht sich Melanchthon wohl auf Römer 1,25.
4 Griechisch „Kriteria“; die weiteren, der Philosophie zugehörigen Gewissheitskriterien sind die allgemeine Erfahrung, die Kenntnis der Anfangsgründe und die Einsicht in die Ordnung bei der logischen Schlussfolgerung. Melanchthon, Liber de Anima, III, S. 340. Daniel Facius
glauben & denken heute Zeitschrift für Freunde des Martin Bucer Seminars
Ausgabe 2/2010 Nr. 6 3. Jahrgang http://www.bucer.ch/uploads/tx_org/gudh-006.pdf
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