„Alle Menschen sind Sünder“, sagt der Glaube oder die Vernunft?

Wenn Christen göttliche Offenbarung zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen, bedeutet das nie und nimmer, dass sie Unsinniges glauben oder dass sich die Offenbarung grundsätzlich vernünftiger Begrün­dung oder Diskussion entzieht. Es bedeutet nur, dass Gott bzw. die Offenbarung Aussagen machen kann, die für uns in ihrer Gesamtheit nicht zu erfassen sind, so dass wir sie erst begreifen, wenn wir sie akzeptieren und im Alltag nachvollziehen. Weiterlesen

1. Petrus 2,19 Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht.

Es gilt für alle Nöte, dass sie zur Gnade werden dürfen; also auch für alles Unrechtleiden, das uns heute oft das Herz so sehr bedrückt. Zweifelsohne hatten viele Empfänger dieses Briefs schmerzliche und ungerechte Schläge als Sklaven zu ertragen. Ihre Herren haben ihnen möglicherweise die Lebensmittelrationen gekürzt, sie zu unzumutbar langen Arbeitseinheiten gezwungen oder sie zu Unrecht auf vielerlei Weise bestraft. Im Gegensatz zu den heutigen Arbeitnehmern in westlichen Industrieländern hatten diese Sklaven niemanden, an den sie sich mit ihren Klagen wenden konnten – keine Gewerkschaftsvertreter, keine Regierungsbehörden und niemanden, um Streitigkeiten zu schlichten oder Zivilprozesse für sie zu führen. Wieder entscheidet nicht der Wert dieses Leidens an sich, sondern die Blickrichtung, in der es erlitten wird. Ob es gegenüber Gott geschieht oder nicht, das macht dasselbe Tun oder Erleben zur Gnade oder zur verbissenen und verlorenen Eigenwerkerei. Dabei ist nicht zu vergessen, dass das Tun der Herren ausdrücklich als Unrecht bezeichnet wird. Anders als der griechische Philosoph Aristoteles, der erklärt, da der Sklave ja Eigentum des Herrn sei, gebe es hier überhaupt kein Unrecht, nennt die Schrift Böses nicht gut, Unrecht nicht Recht.
Das Wort „Gewissen“ kann auf zweierlei Weise gesehen werden. Wörtlich bedeutet es ein „Mit-Wissen“, „das Zeugnis, das dem Verhalten durch das Gewissen erteilt wird, die Fähigkeit, durch die wir den Willen Gottes wahrnehmen“. Es ist das Wissen um das, was vor Gott recht ist, sich zu unterwerfen und die Konsequenzen zu tragen, wenn die Notwendigkeit dazu besteht. Abraham erfaßte diese Wahrheit im Wissen, in der göttlichen Gegenwart zu leben, als er zu seinem Diener sagte: „Der Herr, vor dessen Angesicht ich gewandelt habe“ (1Mo 24,40).
Geduldiges Leiden, gerade auch im Unrecht, findet Wohlgefallen bei Gott, denn es hat missionarischen Sinn und kann zum Lobpreis Gottes führen. Das ist christliche Sicht des Leidens.
Eingesehene Literatur:
Der erste Petrusbrief Eduard Schweizer Auflage 1972 TVZ Theologischer Verlag Zürich
Der erste Petrusbrief von Heiko Krimmer Edition C
Der 1. Brief des Petrus John F. MacArthur
Was die Bibel lehrt, Band 15: 1. Petrusbrief. (CV-Kommentarreihe Neues Testament)

Ursünde besser als Erbsünde

Der Begriff “Erb-”Sünde ist freilich insofern fatal, als er abwegige Assoziationen auslöst: Er lässt das Missverständnis aufkommen, als ob es hier um genealogisch bestimmte Vorgänge im Sinne einer vererbten Krankheit gehe. Damit aber wäre das, was der Begriff meint, gerade in seiner Pointe verfehlt. Ebenso wie eine Erbkrankheit ein Verhängnis ist, das mich von aussen, von meinen Vorfahren trifft, an dem ich also ganz unschuldig bin, würde auch die Erbsünde aus einer Schuld in Schicksal verwandelt und ins Ausserpersönliche abgeschoben.
Doch weil gerade das eben nicht gemeint ist, sollte man lieber die lateineische Vorlage des Begriffs, peccatum originale, Ursünde, als Bezeichnung wählen. In diesem Sinne meint das Wort einen Schuldzusammenhang, in dem ich mich immer schon vorfinde. Es meint Prozesse, in die ich mich verwickelt sehe, die ich aber gleichwohl so mitvollziehe, dass ich mich nicht von ihnen als einem artfremden Andern distanzieren kann, sondern dass ich sie als Subjekt veranworten und von ihnen sagen muss: mea culpa, meine Schuld.
Helmut Thielicke, Mensch sein – Mensch werden, Piper & Co. Verlag: München Zürich 1976. (86-87)

Krieg und Frieden und Schalom im Alten Testament

1. Schalom und Gerechtigkeit (1)
1.1. Wenn die Formel »Krieg und Frieden« wie bei Tolstoi (2) als Merismus verstanden wird, der wie die Wortpaare »Sommer und Winter« oder »Ebbe und Flut« den Ablauf der Zeiten als Einheit beschreibt, dann finden wir dafür keine Entsprechung im AT. Frieden und Krieg stehen nicht zur Beschreibung eines Ganzen zusammen. Dies ist auffällig angesichts der Beobachtung, dass der Parallelismus von Begriffen im AT in gehobener Sprache besonders charakteristisch und häufig ist. Die Begriffe für Frieden und Krieg sind deshalb je für sich zu erfassen. Weiterlesen

Breivik und die Stunde der Pharisäer

Anders Behring Breivik setzte am 22. Juli 2011, als Polizist getarnt, auf die norwegische Insel Utøya über und eröffnete eine Stunde lang das Feuer auf die Jugendlichen des alljährlichen Zeltlagers der sozialdemokratischen Jugendorganisation Arbeidernes Ungdomsfylking. 68 Menschen starben. Er soll auch für die Bomben verantwortlich sein, die zwei Stunden vorher am Regierungssitz Oslo detoniert waren und acht Menschen töteten, wohl auch, um die Polizei von dem Massaker in Utøya abzulenken. Weiterlesen

1.Petrus 2,18 Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen.

In diesem Abschnitt wechselt Petrus von der Politik zur Arbeit und befiehlt den Gläubigen, die Diener oder Knechte sind, sich ihren Dienstherren unterzuordnen. Im weiteren Sinne bedeutet das, dass christliche Arbeitnehmer ihre Arbeitgeber respektieren und sich ihnen unterstellen sollen. Weiterlesen

„Ohne Moos nichts los“

„Ohne Moos nichts los“, denkt sich der Student und bewirbt sich um einen Ferienjob. Nur vom Tierpark bekommt er eine Zusage. Am ersten Arbeitstag erklärt ihm der Wärter: „Unser einziger Gorilla ist gestorben und wir können uns keinen neuen Gorilla leisten. Ihr Job ist es, sich als Gorilla zu verkleiden und hier einen auf Gorilla zu machen.“ Dem Student ist die Sache etwas peinlich, aber weil er die Kohle braucht und ihn unter der Maske auch keiner erkennt, willigt er ein. Von Tag zu Tag entwickelt er immer mehr Begeisterung für seine Rolle. Eines Tages schaukelt er so schwungvoll an seiner Liane, dass es ihn in hohem Bogen in den benachbarten Löwenkäfig schleudert. Schon spürt er den heißen Atem des Löwen in seinem Nacken und schreit aus Leibeskräften um Hilfe, – als der Löwe ihn plötzlich anschnauzt: „Halt den Mund, du Kasper. Oder willst du, dass wir beide unseren Job verlieren?“
Masken tragen: Was hier witzig anmutet und an den Faschingstagen für manche eine Gaudi bedeutet, wird eine Not, wenn aus dem Tragen von Masken ein Lebensstil geworden ist. Man gibt sich glücklich, während ein für alle verborgener Schmerz zutiefst wehtut. Man unternimmt alles, um kompetent und souverän allen Aufgaben gewachsen zu wirken, und zerbricht doch fast an der Überforderung in der Ausbildung, im Beruf, als Eltern und in manch anderen Lebensbereichen. Singles wünschen sich einen Partner, und es ist ihnen doch unmöglich, darüber zu reden. Man will schließlich keine emotionale Schwäche zeigen. Ehepaare geben vor, eine harmonische Ehe zu führen, während in Wirklichkeit dort, wo das Herz schlagen sollte, ein großes Loch klafft. Nach außen wirkt alles in bester Ordnung. Nur das Gewissen erinnert einen ständig an eine Sünde, die auf uns lastet. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Die Maske abnehmen und die Karten auf den Tisch legen, wäre peinlich. Vielleicht wäre sogar die familiäre oder berufliche Existenz gefährdet. Die Maske allerdings aufzulassen, bringt einen über kurz oder lang in den Löwenkäfig, wo die Maske fällt oder man unter ihr zerbricht. In seinem Gleichniss „vom verlorenen Schaf“, „von der verlorenen Münze“ malt uns Jesus einen Gott vor Augen, der uns ermutigt, mit unseren Fehlern nicht das Weite zu suchen, sondern zu ihm zu kommen, Masken abzulegen, Fehler und Schuld zu bekennen, Vergebung zu erbitten und neu anzufangen.
Lukas 15,4-10
4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? 5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Vom verlorenen Groschen
8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Pfr. Dr. Uwe Rechberger
Nr. 163, Juli-September 2011 – Albrecht-Bengel-Haus
www.bengelhaus.de/upload/to163.pdf

Trompeten und Musik im alttestamentlichen Gottesdienst

Der Gottesdienst und die Musik im alten Israel unterschieden sich sehr von heutigen Formen, Gottesdienst zu feiern. Für Christen in einer protestantischen Tradition steht immer und richtigerweise das Wort Gottes und die Predigt im Zentrum. Neben dem Wort spielte schon in der Reformation die Musik eine wichtige Rolle. Sie hat ihre Entdeckung des Evangeliums auch durch die Lieder verbreitet, wie auch die nachfolgenden Erneuerungs- oder Erweckungsbewegungen sehr von den Liedern getragen wurde. Heute gehört die Musik für die meisten selbstverständlich zu einem Gottesdienst. Sie hat die Aufgabe, das Hören des Wortes zu erleichtern und das verkündigte Wort im Lied zu verstärken. Ein Musikstück eröffnet und beendet meist die gottesdienstliche Feier, das gemeinsame Singen wird von Instrumenten unterstützt, musikalische Einlagen begleiten Zeiten der Meditation oder die Austeilung des Abendmahls. Seit etwa 2 50 Jahren gehört auch die Blechblasmusik zum gewohnten Programm kirchlicher und gottesdienstlicher Feiern, vor allem bei besonderen Anlässen und an Festtagen. Liest man auf diesem Hintergrund die Erwähnung von Trompeten in alttestamentlichen Texten, dann ist man geneigt, sie von der Erfahrung der heutigen Posaunenchormusik her zu verstehen. Dies kann die biblischen Aussagen jedoch verzerren. Die folgenden Anmerkungen zur alttestamentlichen Tempelmusik und speziell zur Funktion der Trompeten soll helfen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser zu verstehen. Weiterlesen

Perfektionismus

Wer ein Standardlexikon zur Hand nimmt, findet den Perfektionismus „als ein übertriebenes Streben nach Vollkommenheit“ beschrieben. Schaut man sich in unserem Alltag um, so entdeckt man dieses Streben an vielen Stellen. Fitnessprogramme versprechen uns die perfekte Figur. Modeberater verhelfen uns zum perfekten Outfit. Im Reisebüro wird uns der perfekte Urlaub angepriesen. Wir sind umgeben von einer hochentwickelten Technologie, sodass wir nahezu perfekte Autos oder Computer haben können. Und selbstverständlich erwartet die Spieler auf dem Fußballfeld der perfekte Rasen.
Nun ist es keineswegs falsch, sich an einem solchen Perfektionismus zu freuen. Ein perfekt gespieltes Musikstück hört sich allemal besser an als ein fehlerhaft herunter gespielter Vortrag. Dazu kommt, dass ohne jenes Streben nach Perfektion viele Entwicklungen in Wissenschaft und Technik niemals möglich gewesen wären. Die meisten Wissenschaftler sind Perfektionisten. Und als Patient erwarte ich von einem Chirurgen oder Zahnarzt, dass er sein Handwerk möglichst perfekt versteht. Mitarbeiter, die ein Gemeindefest möglichst perfekt vorbereiten, sind ein wahrer Segen für eine Gemeinde.
Dennoch besitzt der Perfektionismus auch eine sehr negative Kehrseite. Das Streben nach Perfektion kann zu einer wahren Besessenheit werden, unter der die Betroffenen selbst und auch ihr Umfeld früher oder später leiden. Um diese Art der Perfektion, die ein ernstes psychisches Leiden darstellt, soll es im Folgenden gehen. Wir wollen verstehen, warum der Perfektionismus uns zutiefst unglücklich machen kann. Zugleich wollen wir vom Evangelium her Wege entdecken, wie man sein Bestes geben kann, ohne daran zu zerbrechen.
KENNZEICHEN EINER PERFEKTIONISTISCHEN LEBENSEINSTELLUNG
Perfektionismus und zwanghaftes Handeln sind sehr eng miteinander verwandt. Perfektionisten wollen alles genau richtig machen. Fehler wollen sie unter allen Umständen vermeiden. Wie ein solches Verhalten den Alltag lahmlegen kann, zeigt das folgende Beispiel: Ein Student sollte während eines Praktikums auf einem landwirtschaftlichen Betrieb bei der Kartoffelernte mithelfen. Dabei sollte er, der klaren Anweisung des Bauern folgend, die großen Kartoffeln in die eine und die kleinen Kartoffeln in die andere Kiste werfen. Zum Erstaunen des Landwirtes hatte der Student auch nach über einer Stunde schweißtreibender Arbeit keine der beiden Kisten voll bekommen. Auf die Nachfrage des Landwirtes, weshalb er nicht vorwärts komme, sagte der Student: „Ich kann nicht entscheiden, welche Kartoffel groß und welche klein ist.“ Nun mag dieses Beispiel zum Schmunzeln anregen und mancher wird vielleicht sagen „typisch Kopfarbeiter“. Dennoch zeigt das Beispiel die schwierigen Folgen perfektionistischen Verhaltens auf. Entscheidungen zu treffen fällt schwer. Die Arbeit wird nie fertig. Ständig läuft man fremden oder eigenen Erwartungen hinterher. Dass solche Muster den Alltag erheblich beschweren, liegt auf der Hand.
Eine praktische Folge dieser Einstellung ist das Denken in absoluten Polaritäten. So gibt es für einen Perfektionisten nur das absolut Richtige und das absolut Falsche, die absolute Ordnung oder die Angst vor dem absoluten Chaos. Dazwischen gibt es für ihn nichts. Entweder engagiert er sich ganz oder gar nicht. Halbe Sachen kennt er nicht. Wenn er nicht abschätzen kann, wie eine Sache am Ende ausgeht, lässt er lieber die Finger davon. Perfektionisten meiden Risiken. Die Dinge müssen kalkulierbar sein. Die Hintergründe eines solchen Verhaltens lassen sich leicht erahnen. Wenn Perfektionisten auf die unabsehbaren Folgen und Gefahren einer Sache starren, dann hat dies nicht nur sachliche Gründe, sondern hat auch mit ihrer Angst zu tun. Es ist die Angst, die Kontrolle über die Dinge zu verlieren, die Angst, dass alles schief läuft, oder die Angst zu versagen. Wo die Angst jedoch zum handlungsleitenden Prinzip wird (etwa in der Erziehung der Kinder), wird das Leben sehr schnell eng. Perfektionismus kann sich in christlichem Kontext als Gesetzlichkeit äußern.
Der Anspruch, selbst perfekt zu sein oder alles perfekt machen zu müssen, hat fatale Folgen für den, der nach diesem Prinzip seinen Alltag ordnet. Wer von sich selbst nur das Allerbeste erwartet und sich selbst nach diesem Maßstab beurteilt, für den ist jedes Anzeichen eigener Unvollkommenheit ein ernstes Problem. Entweder muss er solche Unvollkommenheiten leugnen, was meistens auch eine Zeit lang sehr gut gelingt. Oder er muss sich angesichts solchen „Versagens“ selbst verurteilen. Pannen und Misserfolge zeigen ihm, dass er ein hoffnungsloser Versager ist. Perfektionisten fällt es schwer, zwischen
Person und Sache zu unterscheiden. Vom Erfolg oder Misserfolg einer Sache schließen sie auf den Wert oder den Unwert der eigenen Person. Für Fehler suchen sie die Ursache ausschließlich bei sich selbst. Die Frage, was man aus Fehlern lernen kann, wäre in dieser Situation eine gesündere Reaktion.
SEELSORGERLICHE ASPEKTE
Vertreter eines christlichen Perfektionismus suchen ihre Lehren häufig mit neutestamentlichen Aussagen zu stützen. Hat Jesus seine Jünger nicht selbst zur Vollkommenheit ermahnt (vgl. Matthäus 5,48)? Erwartet nicht auch Paulus den tadellosen Lebenswandel und das makellose Verhalten der Christen (vgl. Philipper 2,15)?
Wir sehen an dieser Stelle exemplarisch, wie die Interpretation einzelner Bibelstellen, ohne den biblischen Gesamtrahmen mitzudenken, ins Abseits führt. Weder für Jesus noch für Paulus ist der Weg zur christlichen Vollkommenheit eine Möglichkeit des Menschen. Im Gegenteil: In sich selbst findet der Mensch überhaupt keinen Anhaltspunkt, Gott zu gefallen oder sich der Vollkommenheit Gottes anzunähern.
Der perfektionistische Christ lebt unter dem Gesetz. Wir können dieses Gesetz als das Gesetz der Fehlerlosigkeit, der sozialen Zwänge oder auch als das Gesetz der eigenen Ansprüche bezeichnen. Letztlich ist dieses Gesetz nur eine Variante jenes Gesetzes Gottes, an dem Paulus und Martin Luther gescheitert sind, und an dem letztlich jeder Mensch nur scheitern kann. Ein Beispiel für jene gesetzesstrenge Haltung liefert der Romanschreiber Titus Müller in dem Mittelalter-Roman „Das Mysterium“. Dort beschreibt er, wie die christliche Sekte der Katharer im 14. Jahrhundert in München ihr Unwesen trieb. Das Oberhaupt jener Sekte Amiel von Ax scharte dort seine Anhänger um sich, um sich mit ihnen zusammen einem sündlosen und vollkommenen Leben zu verschreiben. Der meisterhaft geschriebene Roman zeichnet nicht nur die historischen Verhältnisse jener Zeit präzise nach. Er verarbeitet auch die theologische Frage von Gesetz und Gnade. Erst als dem Sektenführer Amiel von Ax am Ende seines Lebens der Widerspruch zwischen perfektionistischem Ideal und eigener Lebenswirklichkeit bewusst wird, beginnt er, sich für die Gnade Gottes zu öffnen. Die Katharer, die sich selbst „perfecti“ (Die Vollkommenen) nannten, bilden ein Muster für jenen christlichen Perfektionismus, der in der Geschichte der Gemeinde Jesu bis heute mehr oder weniger treue Nachahmer findet.
Wer dem eigenen Perfektionismus entkommen will, muss ihn an der Wurzel packen. Die Wurzel aber ist die Angst. Wie gelingt es, diese Angst vor Ablehnung, Versagen oder Minderwertigkeit zu zähmen?
Der Weg der Erlösung kann nur über das Kreuz Jesu Christi führen. Wo ein Mensch sich selbst und damit seine Angst und seine Minderwertigkeitsgefühle dem gekreuzigten Herrn ausliefert, geschieht zweierlei. Zum einen kann er sich seine Angst vor sich selber und vor Gott eingestehen. Dies ist entscheidend. Denn nur, was wir uns eingestehen und nicht verdrängen, kann erlöst werden. Das Zugeben und Offenlegen der eigenen Angst im Gebet ist daher eine der wichtigsten Voraussetzungen auf dem Weg der inneren Heilung. Dort, wo die Angst eingestanden wird, kann schließlich das andere geschehen. Der oder die Betroffene wird auf eine geheimnisvolle Weise mit Vertrauen beschenkt. Mit anderen Worten: Die Angst kann sich unter dem Kreuz in Vertrauen verwandeln. Dies geschieht in aller Regel nicht von heute auf morgen. Doch kann ein solches Ehrlichwerden vordem gekreuzigten Jesus der Beginn eines Weges in die Freiheit sein.
Biblisch gesprochen ist also die Rechtfertigung das eigentliche Mittel gegen einen zwanghaften Perfektionismus. Denn wo die Gnade in einem Leben Raum gewinnt, kann das eigene Streben nach Vollkommenheit, das im Kern ein Streben nach Anerkennung ist, überwunden werden. Das Ergebnis solchen „Sterbens“ und „Auferstehens“ ist, dass man mit der Zeit die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten annehmen und sich selbst lieben kann. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Nick Vujicic. Der im Rahmen von „Jesus House“ in Deutschland bekannt gewordene Australier ist ohne Arme und Beine zur Welt gekommen. Gerade als Jugendlicher musste er aufgrund seiner Behinderung ernste Krisen bewältigen. Nachdem er schließlich zum Glauben an Jesus gefunden hat, bekennt er offen: „Obwohl ich alles andere als perfekt bin, bin ich trotzdem der perfekte Nick Vujicic.“ Und er ergänzt: „Wir sind alle vollkommen unvollkommen.“ Das Leben von Nick Vujicic ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass dort, wo man die eigenen Mängel und Schwächen annimmt, erstaunlich Neues entstehen kann.
GOTTES GNADE BEWIRKT NEUE HINGABE
Die Gnade Gottes befreit nicht nur von Ängsten, sie befähigt auch zu einer neuen Haltung. Wo ein Mensch frei geworden ist von sich selber, kann er sich neuen Zielen hingeben. Wo nicht mehr Versagensangst und deren Kehrseite, der ungezügelte Perfektionismus, einen Menschen bestimmen, treten neue Prioritäten ins Blickfeld. Nun kann er sein Leben zur Ehre Gottes einsetzen.
Was könnte unter uns Christen und in unseren Gemeinden heute geschehen, wenn wir diese entscheidende Grundfrage unseres Lebens noch einmal klären würden? Was könnte geschehen, wenn wir unsere „Hausaufgaben“ machen und Jesus auch dort Raum geben würden, wo unsere Angst oder unser Stolz sitzt? Vermutlich würde eine große Freiheit entstehen. Fesseln der Angst würden fallen. Eine Dynamik, seine Sache zur Ehre Gottes wirklich gut zu machen, könnte sich entwickeln. Wir würden uns nicht mehr so sehr um uns selbst, unseren Ehrgeiz oder unsere Angst drehen, sondern könnten uns selbst ganz für ihn verschwenden.
Christen sind nicht perfekt. Sie müssen es auch nicht sein. Wo aber die Gnade ihr Leben durchgreift, kann etwas geschehen, wozu sie aus eigenem Vermögen niemals im Stande wären.
Siehe auch Perfektionismus Der Weg zum Himmel – oder zur Hölle?
http://bibelkreis-muenchen.de/?p=279

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1.Petrus 2,17 Ehrt jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehrt den König!

Eine Viererkette zum Schluss
Vier Aufforderungen beschließen den Abschnitt und zeigen wichtige Unterschiede:
I) Respekt und Achtung gegenüber allen Menschen und den Regierenden
Die Christen sollen jedermann (vgl. Röm 12,10; Röm 13,7) ehren (timesate, „ehren, hochschätzen. Sie sollen sich immer der Tatsache bewußt sein, daß jeder Mensch in einzigartiger Weise nach dem Bild Gottes geschaffen ist.
II) Hingebende Liebe (Agape) zu den Geschwistern in der Gemeinde (das hebt die Liebe zu den Feinden nicht auf!) Die Christen sollen die Brüder, ihre Geschwister in Christus, liebhaben. Gottes Kinder sollen einander lieben.
III) Gottesfurcht aus dem Glauben an Gott (es heißt nicht: Fürchtet den König!)
Die Ehre gegenüber dem Staat ist also begrenzt durch die Furcht vor Gott und die Liebe zur Bruderschaft. Das Herz beanspruchen darf nur Gott und seine Gemeinde.
Die Christen sollen Gott fürchten. Das Verb „fürchten“ (phobeisthe) bedeutet hier nicht „in Angst sein“, sondern Ehrfurcht und Ehrerbietung empfinden, die zu bereitwilligem Gehorsam führen (vgl. phobo in 1. Petr 1,17; phobou in 1. Petr 3,16 und phobon in 2. Kor 7,11). Niemand kann den Menschen wirklichen Respekt entgegenbringen, bevor er Gott nicht wirklich achtet.
IV) Die Christen sollen den König ehren. Das hier verwendete Verb ist timao wie am Anfang des Verses. Die Achtung oder Ehre, die allen gebührt, ist in besonderer Weise jenen zu zollen, denen Gott Autorität verliehen hat (vgl. „dem König“ in 1. Petr 2,13, und „den Statthaltern“ in V. 14; vgl. Röm 13,1).
Dieser Vers faßt die Anweisung des Abschnitts (V11-17) in knappen Imperativen zusammen und stellt sie zugleich hinein in das gesamte Verhalten der Christen gegenüber ihren Mitmenschen und Mitchristen.
Eingesehene Literatur:
Züricher Bibelkommentare NT 15 Der erste Petrusbrief Eduard Schweizer Auflage 1998
Roger M. Raymer Walvoord Multimedia Bibel 1. Petrus
Der Erste und Zweite Petrusbrief Der Judasbrief Übersetzt und erklärt von Otto Knoch Verlag Friedrich Pustet Regensburg 1990

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