Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman ist gestorben.

Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot…“ Vor dem Altar stehend zelebriert Pastor Tomas Ericsson die Abendmahlsliturgie – die erste Einstellung in Bergmans Film „Winterlicht“ . Starr blickt Gunnar Björnstrand als lutherischer Geistlicher an der reglosen Kamera vorbei. Jedem Betrachter ist ohne jede Erklärung schon zu Beginn dieses Filmes klar: hier hält ein Ungläubiger einen Gottesdienst, hier steht ein von Berufs wegen Gläubiger, dessen Glaube in Wahrheit erloschen ist.Mit „Winterlicht“ aus dem Jahre 1962 hat der schwedische Film- und Theaterregisseur Bergman (geb. 1918) ohne Zweifel eines seiner großen Meisterwerke geschaffen. Er drehte diesen schwierigen Film aus tiefem persönlichen Antrieb heraus, um seine vergangene „geistliche Krise“ zu beschreiben und seinem Glauben endgültig einen „Grabstein“ zu setzen.Holger Lahayne zeichnet die Reise in den Unglauben nach und liefert zudem eine plausible Erklärung für den Weg des großen schwedischen Regisseurs. Weiterlesen

Pink Floyd

Das Leben des Syd Barrett

Er genoss nur wenige Jahre seinen Rockstar-Ruhm und verbrachte sein restliches Leben als Pflegefall: Syd Barrett, legendäres Gründungsmitglied der Band „Pink Floyd“. Neben Brian Jones („Rolling Stones“), Jimi Hendrix oder Janis Joplin gehörte er zu den berühmten Drogenopfern dieser Szene in den späten 60er Jahren, obwohl er im Gegensatz zu den anderen überlebte.
Die Anfänge von „Pink Floyd“ waren kurios: Barrett und seine Bandkollegen Roger Waters, Nick Mason und Richard Wright spielten Mitte der 60er Jahre in London Rock’n’Roll-Standards, als sie von der Hippie-Bewegung in San Francisco hörten. Angeblich beschlossen sie, fortan Musik wie Grateful Dead zu machen, obwohl in ganz Großbritannien keine Platte dieser Band aufzutreiben war. Sie spielten psychedelischen Rock, von dem sie meinten, er müsse sich wie der von Grateful Dead anhören.
Der Kunststudent Barrett war in der Anfangszeit der kreative Kopf von „Pink Floyd“. Psychedelik bedeutete für ihn, phantasievolle, rätselhafte, oft kindlich-naive Songs zu machen, wie man sie nie zuvor gehört hatte. Die erste Einspielung bei der Plattenfirma EMI, „The Piper at the Gates of Dawn“ (1967), ist fast allein seine Schöpfung. Zu dieser Zeit experimentierte er aber auch bereits heftig mit LSD. Kaum jemand wusste damals, wie gefährlich diese chemische Substanz ist. Barrett hatte einen Freund, der jedem Besucher Drogen in den Tee tat, auch gegen seinen Willen, und er stand unter seinem Einfluss. Eine Bekannte sagte: „Vier oder fünf Trips pro Tag, und das jeden Tag, das hält keiner aus.“ Aber seine Bandkollegen griffen nicht ein.
Anfangs schrieb Barrett einen verrückten Song nach dem anderen. Aber an der zweiten „Pink Floyd“-Platte „A Saucerful of Secrets“ (1968), war er nur noch mit einem Song beteiligt. Nach etwa eineinhalb Jahren hatte ihn das LSD kaputtgemacht. Bei den letzten „Pink Floyd“-Konzerten, an denen er teilnahm, wurde er von Roger Waters und dem neuen Gitarristen David Gilmour mit umgehängter Gitarre auf die Bühne geführt. Dort stand er dann bewegungslos; er wusste nicht, wo er war. In der Mitte des Konzerts hob er vielleicht eine Hand, was das Publikum frenetisch bejubelte. Er war das beliebteste Bandmitglied – spindeldürr, mit einem magnetischen, wohl auch ein bisschen irren Blick.
Aber so, mit einem Barrett, der von seinem Trip nicht mehr zurückkehrte, konnte es nicht weitergehen. Im April 1968 zog die Band Konsequenzen und warf ihn raus. Mit Bedauern, denn sie widmete ihm später die Hymne „Shine on you crazy Diamond“. Unter dem Einfluss von Roger Waters entwickelte sich „Pink Floyd“ nun in eine ganz andere Richtung – bis zu den Grenzen des Bombast-Rock. EMI hielt Barrett anfangs die Treue und versuchte, Soloplatten mit ihm zu produzieren, während er dachte, er sei immer noch Bandleader von „Pink Floyd“.
Drummer Nick Mason berichtete kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, wie Barrett eines Tages in den 70er Jahren im Tonstudio von „Pink Floyd“ auftauchte: „Wir nahmen gerade ,Wish you were here’ auf. Da stand ein dicker Mann mit einer Glatze. Wir haben ihn nicht erkannt. Ich dachte zunächst, einer von den Technikern hat einen ulkigen Kumpel mitgebracht. Er sah andererseits nicht aus wie jemand, den man in die Abbey Road Studios lässt. David schaute lange durch die Scheibe in den Regieraum. Dann drehte er sich plötzlich zu mir um und sagte: Das ist Syd. Er hat ihn nur an seinen Augen erkannt – like black holes in the sky… Wir wollten die Aufnahmen fortsetzen. Aber das ging nicht. Es war traurig, verstehen Sie? Wirklich unfassbar traurig! Ich hatte Tränen in den Augen.“
Ende 1974 war Barrett zum letzten Mal bei Plattenaufnahmen. Er verbrachte viele Monate in der Psychiatrie. Dann kümmerte sich seine Mutter bis zu ihrem Tod 1991 um ihn. Er lebte völlig zurückgezogen in ihrem Haus in Cambridge und arbeitete dort hauptsächlich im Garten. Bei den Fans blühten die Spekulationen darüber, was aus ihm geworden sein mochte. Manche sagen, er habe viele geniale Gemälde produziert, aber jedes nach Fertigstellung gleich wieder verbrannt. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass er seit Mitte der 70er Jahre noch irgendwie kreativ arbeiten konnte. Die „TV Personalities“ griffen 1980 den Kult mit ihrem Stück „I know where Syd Barrett lives“ auf. 1998 wurde bei ihm Altersdiabetes festgestellt. Am 7. Juli 2006 starb er, nach offizieller Darstellung an den Folgen der Krankheit. Es gibt aber auch Gerüchte, er sei einem Krebsleiden erlegen.
Willi Winkler schrieb über Barrett: „Drogen töten, und manchem schenken sie auch gnädiges Vergessen. Syd Barrett wurde nicht vergessen, so sehr er sich auch mühte.“

   

Louis Pasteur

Man erzählt sich von Louis Pasteur, dem Chemiker und Physiologeen (+ 1895), dass einer seiner Schüler ihn einst gefragt habe, wie er denn nach so vielem Nachdenken und Studium immer noch gläubig sein könne. Und Pasteur antwortete: „Eben weil ich nachgedacht und studiert habe, bin ich gläubig geblieben wie ein bretonischer Bauer. Und wenn ich mehr nachgedacht und mehr studiert hätte, so würde ich gläubig geworden sein wie eine bretonische Bäuerin.“

Künstler beklagen fehlenden Ernst in evangelischer Kirche

In Brief an Bischof Huber kritisieren Prominente „alberne Gottesdienste“ und zu wenig Spiritualität

Von Claudia Keller Quelle: Der Tagesspiegel vom 11. Februar 2007

Eine Gruppe prominenter Berliner, darunter Filmregisseur Wim Wenders sorgen sich um die evangelische Kirche und kritisieren Landesbischof Wolfgang Huber. „Wir fürchten, dass eine der wichtigsten religiösen und gesellschaftlichen Institutionen in die Spaßgesellschaft abdriftet und sich dabei selbst demontieren könnte“, heißt es in einem dreiseitigen Brief, den die zwanzig Berliner nach frustrierenden Erfahrungen mit Weihnachtsgottesdiensten an Bischof Wolfgang Huber geschrieben haben. Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören Kulturschaffende wie die frühere Theaterdirektorin Nele Hertling, Schauspielerin Jutta Lampe und der Publizist Michael S. Cullen. Zu den Unterstützern des Schreibens zählen Filmregisseur Wim Wenders und Kulturmanager Peter Raue.

In den Weihnachtsgottesdiensten haben die Briefeschreiber „Musical statt Gottesdienst“ erlebt, „Albernheiten statt Weihnachtsbotschaft, keine Predigt, nichts“. „Sitzt unsere Kirche nicht dem grandiosen Irrtum auf, man müsse nur ,zeitgemäß‘ sein, um die Gläubigen zu halten? Ist nicht das Gegenteil richtig?“, fragen sie sich. Es gebe nichts Zeitgemäßeres, nichts Aktuelleres als die Botschaft der Bergpredigt. „Sind die evangelische Kirche und ihre ordinierten Vertreter nicht willens oder nicht mehr in der Lage, diese Botschaft zu vermitteln? Wo schicken Sie denn die Menschen hin, die die Weihnachtsbotschaft hören wollen, die sich Trost, Sinn, Inhalte von ihrer Kirche erhoffen? In das Theater des Westens?“, fragen die Unterzeichner.

Die Kritiker vermissen außerdem die Stimme der Kirchen in der aktuellen Wertedebatte. Ausgerechnet die Kirchen, die den Werte-Konservatismus im besten Sinne erfunden hätten, schlössen sich von dieser Debatte aus. Wenn sich die von ihnen beobachtete Entwicklung fortsetze, träten immer mehr Menschen zum Katholizismus über.

Die 14-zeilige Antwort von Bischof Wolfgang Huber fanden die Unterzeichner „mehr als dürftig“, wie Jan D. Schmitt-Tegge, früher leitender Mitarbeiter im Umweltbundesamt, sagt. Er hat den Brief an den Bischof verfasst. Huber stellt in Aussicht, „den Klagen, die an mich gelangen, nachzugehen“. Auf die generelle Kritik an einer Entwicklung innerhalb der evangelischen Kirche geht der Bischof in seiner Antwort nicht ein. „Ich habe den Brief sehr ernst genommen“, sagte Huber dem Tagesspiegel. „Es ist doch klar, dass die Frage nach der Qualität von Gottesdiensten für mich zentral ist.“ Er habe aber so knapp geantwortet, weil er schnell reagieren wollte.

Besorgt sind die Kritiker auch über den Kurs der evangelischen Kirche, der vor zwei Wochen auf dem „Zukunftskongress“ in Wittenberg diskutiert wurde. Pfarrer, Bischöfe und viele Kirchenmitglieder kritisierten vor und in Wittenberg, dass in der Kirche zu viel über Strukturreformen und zu wenig über geistliche, spirituelle Fragen gesprochen werde. „Was machen die bloß? Wo bleiben die Inhalte?“, fragt Jan D. Schmitt-Tegge. Es könne doch nicht vordergründig um „Taufquoten“, „Qualitätsmanagement“ oder die Zusammenlegung von Landeskirchen gehen. Das seien Formalien. Die Kirche müsse sich auf ihre Botschaft und auf die Spiritualität besinnen und etwas gegen das „Zerfleddern der bestehenden Gottesdienstformen“ tun. Denn wenn es so weitergehe, so Schmitt-Tegge, frage er sich, ob die evangelische Kirche noch lange Bestand haben werde. (Seite 7)

http://www.stmichael-online.de/alberne_gottesdienste.htm

Der Papst und die Bibel

Große Aufmerksamkeit fand in den letzten Wochen der erste Band des neuen Jesus-Buches von Joseph Ratzinger. Zu Recht meine ich. Jeder Evangelikale, der die vielen Jesus-Verschnitte in der historisch-kritischen Literatur der letzten 150 Jahre kennt, wird feststellen, dass hier in erfreulicher Klarheit der biblische Jesus bezeugt wird. Wie kommt das? Es liegt wohl daran, dass Joseph Ratzinger mit guten Gründen und in erstaunlicher Deutlichkeit mit der gängigen Bibelkritik ins Gericht geht und die Bibel in dem, was sie von Jesus sagt, ernst nimmt. Immer wieder beruft er sich auf eher konservative evangelische Theologen seiner früheren Tübinger Universität, folgt ihnen aber dann nicht, wenn es um Sachkritik an biblischen Aussagen geht. Als bibeltreuer Christ liest man vieles in diesem Buch mit Zustimmung. Bei manchen Anmerkungen zum Alten Testament merkt man aber, dass Ratzinger hier, wo er keine eigenen Ergebnisse präsentiert, gelegentlich den kritischen Konsens übernimmt. Als evangelischer Christ wird man auch da nicht folgen, wo er mit den Kirchenvätern über den Wortsinn des Bibeltextes hinausgeht. Und doch, die Kritik eines so scharfsinnigen Denkers an der Bibelkritik unterstreicht Anfragen, die Evangelikale seit Jahrzehnten an eine weltanschaulich verengte kritische (aber zu wenig selbstkritische) Theologie stellen. Das Ergebnis ist in diesem Fall ein biblisches Jesusbild. Dass damit noch nicht alle reformatorischen Anliegen aufgenommen sind, ist allerdings auch wahr. So könnte man den Eindruck bekommen, dass die Seligpreisungen als Heilsweg ausgelegt werden. Dann wären es aber wieder die Werke, die selig machen. Es gilt das Wort der Bibel prüfet alles und das Gute behaltet.

 

Narzissmus als Erfüllung des Lebens?

Bedeutet geistliches Leben Welt flucht oder Anpassung, Selbstliebe oder Selbstverneinung? Unsere Erwartungen an das Leben wie unsere speziellen Existenzängste gehen letztlich auf den bewussten oder unbewußten Einfluß der jeweiligen Zeitströmungen zurück, denen Christen und Nichtchristen, gleichermaßen ausgesetzt sind ”” wie der legendäre Londoner Nebel, der selbst vor verschlossenen Türen nicht halt machte und alles durchdrang. Keiner von uns ist imstande, ein völlig steriles Leben zu führen und wenn es gelänge, wäre keine Kommunikation zur Umwelt mehr möglich. Die Welt, in der wir leben und uns als Bürger bewegen, ist jedoch keine «heile sondern Abbild einer in der Gesamtheit «gefallenen» Welt, so daß es sorgfältig zwischen «menschlichem» und «gefallenem» zu differenzieren gilt. Wenn Christen in der Gesellschaft leben und zu ihrem Wohlergehen beitragen möchten, bedeutet dies, in innerer Verantwortung und Anteilnahme, aber auch in kritischer Distanz zu ihr zu stehen. Als Menschen, die mit ihrer Kultur verbunden, aber dennoch nicht an sie gebunden sind, sind sie berufen, «in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein» (Joh. 17,9).

Inmitten einer Kultur des Narzissmus
Ständiger Veränderung unterworfen, präsentierte sich unsere westliche Kultur in jedem Jahrzehnt in einem anderen Gesicht. Unterschieden sich die siebziger Jahre bereits maßgeblich von den Sechzigern, so sind die achtziger Jahre von einer Kultur des Narzißmus gekennzeichnet. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffes geht auf die griechische Mythologie zurück. Im Drama «Narziß und Ophelia» steht ein gutaussehender, von Göttern und Menschen geliebter junger Mann im Mittelpunkt, den die Götter mit Echo, einem Kind der Hera, der Frau des Zeus, verheiraten wollten. Einziges Problem. des Mädchens war jedoch, daß sie außerstande war, eine normale Unterhaltung zu führen, sondern jeweils nur die letzten Worte des an sie gerichteten Satzes wiederholen konnte. So blieb ihr die Tatsache, ein schönes Mädchen zu sein – eine Nymphe. Eines Tages traf Narziß Echo im Walde, und da sie ihm gefiel, begann er eine Unterhaltung mit ihr, bei der sie jedoch lediglich die letzten Worte seiner Sätze wiederholte. Kurzum, obwohl sie sich ineinander verliebt hatten, zerbrach ihre Beziehung. Narziß verwarf sie, aber das beschwor wieder um den Ärger der Götter herauf, die auf ihrer Seite waren und sich gekränkt fühlten. In ihrem Zorn straften sie Narziß mit Selbstliebe. Sie bewirkten, daß er so unstillbar Gefallen an sich fand, daß er den ganzen Tag am Rand eines Tümpels lag, um sein eigenes Gesicht anzustarren. Eines Tages umarmte er sein eigenes Spiegelbild und ertrank. Dies erregte wiederum das Mitleid der Götter, so daß sie Reue empfanden und zum Gedenken an ihn an dem Platz, an dem er starb, eine Blume wachsen ließen – eine Narzisse, die nach dem Menschen benannt war, der dort so tragisch den Tod fand. Die zweite etymologische Wurzel des Begriffes Narzißmus finden wir in der Psychologie Freuds, der ihn als Beschreibung frühkindlicher Erlebnisse in der noch hilflosen Phase des Kindes gebraucht. Seiner Ansicht nach hat das Kind zu diesem Zeitpunkt noch keinen Bezug zur Außenwelt und wird von ihr völlig erdrückt, so daß es, manchmal mit Hilfe von Träumen oder dem Trost des Daumens, Zu flucht nach innen nimmt. Verfällt jedoch ein reifer Mensch wegen schwerer Lebenszustände in eine solche Haltung, sprechen die Psychologen von Narzißmus und bezeichnen damit eine ernste seelische Krankheit, die den Patienten völlig von der Außenwelt isoliert, und ihn nur noch krankhaft mit sich selbst und dem eigenen Wohl ergehen befassen läßt. Es handelt sich dabei nicht um normalen «Egoismus», sondern um eine krankhaft übersteigerte, unstillbare Selbstliebe, deren Begleiterscheinung ernste Kontaktschwäche bis hin zum Selbsthaß sind. Sehr oft hört man von solchen Patienten die Bemerkung: «Tief innen habe ich das Gefühl der Leere». Inwieweit dieses Phänomen unsere Zeit bestimmt, hat Christopher Lasch sorgfältig in seinem Buch unter sucht, dem er den Titel „Die Kultur der achtziger Jahre“ gab. Er schreibt dort: «Die Sechziger waren das Jahrzehnt der politischen Auseinandersetzung. In den Siebzigern jedoch umarmten die einstigen Radikalen die therapeutischen Wege der Selbstwahrnehmung und gingen in den religiösen Supermarkt der Westküste, in dem sie Gestalttherapie, Biogenetik, Rollenspiele, Jogging, moderne Tänze, Meditation, Akupunktur und Zen fanden. Aber heute, in den Achtzigern, sind wir so weit gekommen, daß wir uns im Spiegel der Behauptung von Jerry Rubin erkennen: „Ich habe es jetzt gelernt, mich selbst genug zu lieben, daß ich niemand anders mehr brauche, um mich glücklich zu machen,, 1. Er bezeichnet mit Narzissmus den Mangel echter, tiefer zwischen menschlicher Beziehungen, das schwindende bewußtsein für den historischen Moment der Gegenwart und die Abhängigkeit von Selbstdarstellung und Showeffekten. Auf alle diese Punkte werde ich im folgenden noch näher eingehen: Viele Leute klagen heute über den Verlust von Tiefe und Echtheit in ihren Beziehungen zum Mitmenschen, denen sie in Studium und Beruf und allgemein in der Gesellschaft begegnen. Sie kennen zwar oft sehr viele Leute, aber dennoch befriedigen sie diese oberflächlichen Kontakte nicht. «Alles erscheint mir wie ein riesiges Getriebe», sagte mir jemand, “in dem jeder ein Rädchen bildet, das sich, manchmal reibungslos, dreht. Aber was ist letztlich sein Sinn und Zweck?“ Wie sehr uns zudem das Bewusstsein für den gegenwärtigen historischen Moment fehlt, erkennen wir daran, daß wir nicht nur die Probleme der vierziger und sechziger Jahre (seine Kriege und Krisen), sondern die gesamte Vergangenheit vergessen möchten, obwohl ihre Schrecken das Leben uns nahe stehender Menschen, unserer Eltern und Großeltern, oftmals maßgeblich beeinflussten und zerstörten. An und für sich sollte die Vergangenheit etwas wie ein Polster sein, aus dem man neue Energien gewinnt, aber der moderne Mensch. hat das Bewußtsein für sie verloren. Er ist ruhelos am Werk, um seine Wünsche jetzt und in diesem Augenblick sofort zu erfüllen. Um noch einmal Lasch zu zitieren: «.„ der moderne Mensch ist ein zukunftsloses und ein vergangenheitsloses Wesen. Er wird in jedem Augenblick von neuem geboren.»2 Das dritte Merkmal des modernen Menschen ist die Empfänglichkeit für und die Abhängigkeit von Selbstdarstellung und Showeffekten. In unserer Gesellschaft sind weithin nicht mehr Können oder Charakter das Kriterium, um akzeptiert zu werden, sondern die äußere Wirkung. Selbst Politiker werden heute nicht mehr allein auf grund ihrer Fähigkeiten gewählt, sondern wesentlich ist, wie sie sich und ihre Leistungen präsentieren können. Hochkarätige Manager aus Industrie und Geschäftsleben haben Wege gefunden, sich und ihre Leistungen entsprechend hoch zu verkaufen; unsere Wirtschaftswelt ist ohne Werbung undenkbar und selbst das Bildungssystem ist oft zu Lasten der Persönlichkeitsbildung und des breiten Wissens dem Statusdenken und dem schnellen Erwerb von Titeln unterworfen, so daß unsere gesamte Gesellschaft auf äußere Wirkung, Selbstdarstellung und Showeffekte ansprechbar und davon abhängig geworden ist.

Der neue Mensch: unbeteiligt, passiv, gelangweilt – Zuschauer des Lebens
Das zeigt sich allein daran, daß wir persönlich zum Beispiel gar nicht gern Sport treiben, aber mit Interesse anderen dabei zuschauen. Wir selbst mögen auch in unserem eigenen Leben keine Gefühle der Freude und des Leids, der Reue und der Traurigkeit empfinden, folglich schauen wir uns „Dallas“ im Fernsehen an und bekommen so das Erlebnis über die Medien vermittelt. Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, die alle eines gemeinsam haben: Es fehlt der Wirklichkeitsbezug und die Tiefe. Mit anderen Worten. können wir sagen: Wir sind alle zu Zuschauern geworden. Richard Holloway schreibt: „Im Westen leben wir heute in einer Peepshowgesellschaft. Wir sind alle Zuschauer. Wir möchten den Reiz losgelöst von der menschlichen Beziehung. Wir möchten unsere Neugierde ohne Verpflichtung befriedigen“. Ein Peepshowbesucher möchte begrenzt zu sexuellem Genuß kommen, d.h. lediglich den gefühlsmäßigen Reiz konsumieren und teilweise seine Lust befriedigen, weil er sich aus Angst, die Beziehung könnte schief gehen, nicht binden möchte. Und so wird ein neuer Bürger geboren: unbeteiligt, passiv, eher stoisch, tief gelangweilt, ohne Erwartungen und für Überraschungen unzugänglich. Man hat diese Haltung psychologisch und soziologisch zu erklären versucht, wobei das zuvor erwähnte Buch von Christopher Lasch beide Interpretationswege miteinander zu verknüpfen sucht. Auf der einen Seite verwendet der Autor die Theorien und den von Freud geprägten Begriff Narzißmus – wobei zu bedenken ist, daß die Ursache dieser speziellen seelischen Krankheit mit Vernachlässigung, Abwesenheit oder schlechter Behandlung von seiten der Mutter angenommen wird, Parallel dazu zieht Lasch die Hypothese Marx heran, nach der der Mensch ein soziologisches Wesen ist und daher von der Gesellschaft, die seine große Mutter bildet, geformt oder zerbrochen werden kann. Er glaubt demzufolge, die Wurzel des Narzißmus in einer Gesellschaft finden zu können, die große Versprechungen macht, aber diese nicht einhalten kann. Der Untertitel seines Buches lautet daher: Das amerikanische Leben in einem Zeitalter schwindender Erwartungen.» Lasch führt hier sehr gute Beispiele für den Zerfall des Familienlebens und des Verwaltungsapparates unserer Gesellschaft an und erwähnt vor allem die Tatsache, daß die Menschen sehr lange der Utopie des Wirtschaftswachstums und der sozialen Sicherheit glaubten, die jedem Glück schenken würde. Der Zusammenbruch dieser Ideale habe Verwirrung, Enttäuschung, Haß und am Ende Apathie bewirkt. Vom biblischen Standpunkt aus können wir mit vielen Beobachtungen von Christopher Lasch über einstimmen, aber sie bringen uns noch nicht weiter. Während wir Lasch lesen, fragen wir nach den Gründen, die es überhaupt zu dieser Entwicklung kommen ließen. Warum kann ein moderner Staat nicht das tiefe menschliche Verlangen nach Glück erfüllen und warum ist eine dynamische Gesellschaft der Apathie erlegen? Weder die Psychologie noch die Soziologie können letztlich in der Antwortfindung auf diese tieferen Fragen weiterhelfen, so daß wir uns zu ihrer Klärung an Gottes Offenbarung wenden müssen. In der biblischen Heilsgeschichte finden wir eine Fallgeschichte, die bei Anwendung auf unsere westliche Gesellschaft wesentliche Hintergründe erhellt. Es handelt sich hier um das Beispiel des ersten Königs Israels – Saul. Seine Lebensgeschichte spiegelt eindrücklich die Problematik des modernen Menschen wider. Zuerst erweckte Saul unter den Israeliten messianische Hoffnung. Er war ein schöner, gut aussehender Mann: «Und es war niemand unter den Kindern Israel so schön wie er» (1. Sam. 9,2). Am Ende jedoch, in einer durch Rebellion und Ungehorsam gegen Gottes Willen selbst verschuldeten Phase der Gottesferne, verfiel er in die Haltung des modernen Menschen – den Narzißmus. Das zeigt sich besonders in seinem Verhältnis zu David. Solange dieser noch ein harmloser junger Mann war, der auf der Laute spielte, wenn Saul Depressionen hatte, gab es keine Probleme zwischen ihnen. Aber von dem Tag an, als er die Leute auf der Straße sagen hörte: Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend» (1. Sam. 18,7), haßte er David. Er feilte nur noch an seiner Selbstdarstellung herum und wurde immer depressiver. Äußerer Glanz ging mit innerer Leere einher, bis Saul ähnlich wie Narziß schließlich im Selbstmord endete. Die Geschichte Sauls erhellt die Geschichte unserer westlichen Kultur, da viele Zitate aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert von ungeheuren Zukunftserwartungen der Leute zeugen. Manchmal wurde direkt messianische Terminologie verwandt: Wir sind berufen, das neue Israel zu sein, und Wissenschaft und Technik werden uns mit den Möglichkeiten zur Errichtung einer neuen Welt ausrüsten. Ist das Wahrheit geworden? Nein, leider nicht und Lasch hat recht, wenn er dies beobachtet. Die Antwort, die er uns dennoch schuldig bleiben muß, finden wir, wenn wir uns wieder der Schrift zuwenden und untersuchen, wo Saul einen entscheidenden Fehler beging. Im Anfang kämpfe er wirklich einen guten Kampf – in 1. Samuel 11 befreite er die Einwohner von Jabesch, aber er schreibt sich diesen Erfolg nicht selbstherrlich allein zu: «Denn der Herr hat heute Heil gegeben in Israel» (1. Sam. 11,13), lautet sein abschließendes Wort. Wir können je doch eine allmähliche Veränderung bei Saul beobachten, die am deutlichsten im Bericht des Kampfes gegen die Amalekiter zutage tritt, der in Kapitel 15 aufgezeichnet ist. War es ihm früher gelungen, sie nieder zuschlagen, weil der Herr ihm Kraft zum Sieg gegeben hatte, rühmt sich Saul hier selbst dafür, geht zum Karmel und errichtet sich ein Denkmal (1. Sam. 15,12). Daraufhin wird der Prophet Samuel mit der Botschaft zu Saul gesandt: «Der Herr hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem anderen gegeben, der besser ist als du» (V. 28), Von diesem Tag an wandelt sich Saul in einen ichbezogenen, manchmal gelangweilten, ärgerlichen Mann, ‘dem es, tief verunsichert, manchmal sentimental, allgemein nicht mehr gelingt, gesunde menschliche Beziehungen aufzubauen und zuerhalten – selbst nicht mehr zu seinem eigenen Sohn Jonathan. Gleichzeitig dreht er sich im Zirkel von Selbstliebe und Selbsthaß. Seine Geschichte verdeutlicht, daß hier die entscheidende Wende liegt. Sauls Leben und Einstellung veränderten sich genau zu dem Zeitpunkt, als er sich selbst zum Mittelpunkt der Welt machte, d.h. sich selbst ein Denkmal setzte, anstatt wiederum zu sagen: «Heute hat der Herr Befreiung geschenkt».Auf ganz subtile Weise nahm unsere westliche Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts den gleichen Verlauf. Führende Denker und Politiker begannen zu sagen; «Der Mensch ist autonom, Wir können die Probleme mit unserer eigenen Vernunft lösen,» Anstöße kamen zunächst aus deistischem Lager, daß der Mensch so leben müsse, als ob Gott nicht existierte (si deus non daretur) und infizierten bald den gesamten Strom von Gesellschaft und Kultur. Einige Jahre später wünschte sich der führende Philosoph Ludwig Feuerbach die Grabinschrift: Homo hornini deus (der Mensch ist der einzige Gott des Menschen). Von diesem Tag an durchdrang der Atheismus die westliche Kultur. Zurück zu Saul möchte ich nochmals auf einige sehr eindrückliche Punkte eingehen. Sicherlich war Saal von tragischem Erleben betroffen, aber der Prophet geht nicht näher darauf ein, da er ihn augenscheinlich voll dafür verantwortlich hält und ihm daher sagt: «Gehorsam ist besser als Opfer». In der griechischen Mythologie haben wir es mit einer literarischen Tragödie zu tun, die Freud auf greift, wenn er den modernen Menschen als Narziß bezeichnet. Narziß bleibt jedoch allenfalls eine tragische Figur, da er als willenloses Opfer für sein kleines Versagen harter Strafe ausgesetzt ist. In der Bibel ist es anders. Nicht nur haben wir es bei Saul mit einer realen Gestalt zu tun, sondern Samuel hält Saul für voll verantwortlich und ruft ihn zur Buße auf, weil er weiß, daß der Gott Israels ein gnädiger Gott ist, der immer bereit ist, seinem Volk eine neue Gelegenheit zu Umkehr und Neubeginn zu gebe
n. Es ist zudem bemerkenswert, daß Saul nur dann Befreiung von seiner depressiven Stimmung erhielt, wenn er der Musik Davids zuhörte – dem wahren König. Wenn David spielte, fand Saul Erleichterung (1. Sam. 16,23). Ist das nicht erstaunlich und tröstlich, welche wunderbare Wirkung Davids Psalmen auf den seelisch Gestörten hatten? Die Begegnung von Sau! und Samuel Sendet schließlich in 1. Samuel 15 mit der Feststellung; «Und Samuel sah Saul nicht mehr bis zum Tage seines Todes» (V. 35). Weder frostiges Verurteilen noch herzlicher Abschied geschehen bis zu diesem letzten Tag, an dem Samuel über Saul Leid trug. Daran, erkennen wir, welch tiefes Mitleid Samuel für den Mann empfand, den er so sehr liebte. Anhand dieses Beispiels lernen auch wir, wie wir uns gegenüber Mitmenschen verhalten sollen, die in Narzißmus versunken sind: Barmherzigkeit, Verantwortung und das Spielen der Musik Davids auf der Laute sind die drei Schlüsselworte. Im aktuellen Fall sind dies die Antworten, auf die etwa folgenden existentiellen Fragen jener Menschen um uns, die Opfer des Narzißnius wurden:

Ist jede Art von Selbstliebe falsch?
Wie begegnet man dem gesamten Phänomen? Wie kann man Tiefe und Realität in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren? Ist es unvermeidlich, eine Maske zu tragen? Sollten Menschen, besonders Christen, ihre Schwachheiten verbergen? Nach welchen Maßstäben sollen wir leben? Als Antwort auf diese berechtigten Fragen sollten wir den modernen Sauls die Musik Davids bringen.

Befreiung von Narzissmus
Nicht die Christen, ihr Leben und ihre Art zwischenmenschlicher Beziehungen sind Maßstab und Hilfe, um von Narzißmus, Trübsinn und Selbsthaß frei zu werden, sondern dementgegen wird ein echter Christ daran zu erkennen sein, daß er seinen Zeitgenossen dazu verhilft, der Musik des «Sohnes Davids zuzuhören – Jesus Christus, der allein durch sein Leben und Werk Befreiung und Erleichterung schaffen kann. Das möchte ich nicht als einleitende Bemerkung, sondern als Grundsatz verstanden wissen, da nur so eine echte Bewältigung des Problems des Narzißmus gewährleistet ist: Voraussetzung für echte Befreiung ist die bewußte Abwendung von der Selbstverwirklichung, d.h. Vergötzung meines eigenen Ichs und die bewußte Hinwendung zu Gott, dem Vater Jesu Christi, der wieder das Zentrum meines Lebens einnehmen soll und dem ich im Gehorsam dienen möchte. Die Hilfe liegt im Bruch mit der Egozentrik und im bewußten Ja zu einem christuszentrierten Leben – d.h. in einem radikalen Herrschaftswechsel. Bedenken wir noch einmal, woran Saul scheiterte: Es war schlußendlich die Tatsache, daß er sich nur noch selbst anbetete und sich nach ersten unmerklichen Schritten schließlich ganz von Gott entfernte. David hingegen war ein Mann Gottes – nicht, weil er so religiös, brilliant und fromm war, sondern, weil er trotz allen Versagens und Schuldigwerdens vor Gott, immer wieder den Herrn zum Zentrum seines Lebens machte und alle Sünde vor ihm offen bekannte. So ist auch heute echte innere Befreiung und sinnvolles Leben nur möglich, wenn wir mit ganzer Überzeugung Jesu Person und Werk zur Grundlage unseres Lebens machen und dem Kreuz für unsere Verzweiflung, für unser Verhaftet sein an Schuld und Tod persönlich vertrauen. Mit diesem Kern seiner Botschaft hinterfragte Jesus damals seine Zeitgenossen und auch uns heute: «Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmt und die Ehre von dem alleinigen Gott nicht sucht?» (Joh. 5,44). Und als der erste Mensch, sein Jünger Petrus, ihn als den Messias bezeugte, entgegnete er ihm: «Gesegnet bist du Simon, Sohn Jonas, denn Fleisch und Blut haben dir dies nicht offenbart, sondern mein Vater, der in dem Himmel ist» (Matth. 16,16). Mit dieser auf Gott verweisenden Antwort gibt Jesus als Sohn Gottes Modell für unser Verhalten. Er sagt nicht: «Das ist jetzt endlich mein Erfolg, die Bestätigung meiner Arbeit. Nein, er gibt die Ehre seinem Vater im Himmel, dessen Gabe es ist und der ihn als Mensch und Erlöser auf diese Erde gesandt hat. Die Bibel bestätigt, daß die Selbstliebe ein Merkmal unserer Zeit und Generation ist, die als Endzeit der Wiederkunft Jesu vor angeht. Wir sollten daher die Worte des Apostels Paulus bedenken: «Dies aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere Zeiten eintreten werden, denn .» und dann zeichnet er ein Charakterbild des Menschen in der Endzeit, deren erstes Kennzeichen ist, selbstsüchtig zu sein, im Griechischen «autofilioi», da sie sich buchstäblich in sich selbst verlieben werden (2. Tim. 3,1-5; vgl. 2. Petr. 2,14). Befreiung aus dieser letztlich zerstörerischen Fehlhaltung zu sich selbst kann nur durch den Willensentschluß geschehen: weg von der Selbstliebe zur Liebe Jesu und zur Liebe des Vaters, weg von der Selbstanklage zur Klage meiner Schuld und Selbstsucht unter dem Kreuz, da Jesus Christus sie mir abnehmen will, weg vom Zwang der Befriedigung meiner eigenen, nie zu stillenden Lüste hin zum Gehorsam und hin zum bewußten Leben nach dem Gefallen und Willen Gottes, der mich durch seinen Geist verändern und dazu befähigen möchte. Natürlich stellen sich hier die Fragen: «Ist im christlichen Leben kein Platz mehr für die Selbstliebe und die Verwirklichung meiner eigenen Interessen und Wünsche? Sollen wir den Narzißmus etwa mit Altruismus bekämpfen?» Hier ist es sehr wichtig zu einem gesunden «Selbstverständnis» zu kommen, das der Bibel und nicht bestimmten persönlichen oder kulturellen Vorstellungen einzelner christlicher Gruppierungen entspricht; denn viele Christen haben leider in ihrem Leben eine Art von Musik gespielt, die alles andere als schön und anziehend war. Ich denke da an die abschreckende puritanische Art der Selbstverleugnung des Körpers und der Betonung der Entsagung. Oftmals wurde eine solche Fehlhaltung mit dem Wort Jesu begründet: «Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst.» Wir alle wissen, daß dies regelrecht zu einer Persönlichkeitsverarmung und -einschränkung führte. Wir begegnen auch oftmals Christen, die ihre Gefühle asketisch unter drücken und Freude an der Leiblichkeit nicht aufkommen lassen, weil sie dies unter den Bereich der Sünde zählen. Dies läßt Freude an den eigenen gottgegebenen Fähigkeiten, an meinen Körper und meinen Gefühlen vermissen und wird ernste Folgen für den betreffenden Menschen und seine Umwelt haben. Doch eine solche Haltung ist keineswegs biblisch, sondern platonisch. Wenn Christus uns aufforderte, uns selbst zu verleugnen, meint er damit nicht, daß wir uns selbst verneinen sollen. Gerade das Gegenteil war seine Absicht Weil wir so kostbar sind und Gottes Reichtum in uns tragen, sollen wir den größtmöglichen Fehler vermeiden, alle diese guten Gaben als Selbstverherrlichung anstatt als Geschenk und Talent des Herrn zu verwenden, Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Wir sollen alle Bereiche unseres Lebens, unseren Körper, unsere Gefühle und unseren Verstand als Gabe Gottes sehen. Mit biblischen Worten ausgedrückt heißt dies: «… freue dich, junger Mann, in deiner Jugend und dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugendzeit, und wandle in den Wegen deines Herzens und im Anschauen deiner Augen, doch wisse, daß um dies alles Gott dich ins Gericht bringen wird» (Pred. 11,9-10). In der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist sehr viel Raum für Lebensfreude und Persönlichkeitswachstum. Wo liegen die Grenzen? Wo muß die «Eigenliebe» des Christen enden? In der Tat versteift sich ein Christ nicht auf die Position, daß alles, was im Bereich seines Körpers und seiner Gefühle geschieht, rein und schön sei, da wir Teil der gefallenen Menschheit sind – und folglich die Sünde sehr viel Schmutz und Schuld in unserem Wesen anrichtet. Wie sollen wir zu diesen offensichtlichen Schwachstellen stehen? Im körperlichen, seelischen und moralischen Gebiet herrschen jeweils wieder andere Probleme und Fragestellungen vor, so daß ich für jeden Bereich gesondert antworten möchte: Im körperlichen Bereich müssen wir uns vor allem dort akzeptieren, wo wir uns besonders schwach meinen z.B. unsere mangelnde körperliche Kraft, unser schwaches Nervensystem, unsere erbliche Nervosität, unser spezielles Temperament. Auch hier sollten wir akzeptieren lernen, daß wir in einer gefallenen und nicht in der paradiesischen Welt leben. Wenn wir uns mit unseren Schwächen und Grenzen annehmen, weil Christus uns durch sein Kreuz und die Neuschöpfung bereits angenommen hat, so ist Raum für Wachstum gegeben. Gerade indem sie lernten, mit ihren Schwachheiten zu leben, haben viele Menschen entdeckt, wie die Schwächen oft ihre Stärken wurden.

Geistlicher Kampf
Für die Schwächen auf psychischer Ebene möchte ich das Wort «Kampf» nennen, da wir in der ständigen Auseinandersetzung mit unseren persönlichen psychologischen Schwächen stehen. Ich denke da an das Bemühen, das Paulus in Römer 7 beschreibt. Es sollte nicht so sein, aber die Wirklichkeit sieht so aus, daß wir das ganze Leben gegen unser negatives Wesen und unsere sündhaften Veranlagungen an kämpfen müssen, die in Eifersucht, Stolz, Empfindlichkeit, Minderwertigkeitsgefühlen etc. zum Ausdruck kommen. «Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich» (Röm. 7,19). Doch dieser Kampf wird uns nur gelingen, wenn wir «in Christus sind, d.h. bewußt seine Kraft und Vergebung in Anspruch nehmen und immer wieder im Gebet zu ihm kommen: «Danke Herr, daß du mich bereits gerechtfertigt, geheiligt und in dir vollkommen gemacht hast. Hilf mir nun, daß ich mit meinem Leben deine Musik weitergebe …» Auf moralischem Gebiet hat der Herr die Selbstliebe schließlich durch ein Gebot eingegrenzt. Er sagte nicht: «Du sollst dich nicht selbst lieben», sondern «liebe deinen Nächsten wie dich selbst». Auf diese Weise wird deutlich, daß wir nicht um Selbstliebe kämpfen, sondern sie einsetzen sollen.
Stehen wir zunächst einmal zu der objektiven Tatsache, daß wir uns selbst lieben, um dann in diesem Bewußtsein den Nächsten wie uns selbst zu lieben. Auf diese Weise steilen wir sicher, daß unsere Selbstliebe frei von Narzißmus ist, da dies wiederum unsere Beziehung zu unserem Mitmenschen hemmen würde. Ich möchte mit einem Zitat aus Pascals Pensees enden; «Wir geben uns nicht mit dem Leben, das wir für uns und als unser eigenes Dasein leben, zufrieden: wir wollen in der Vorstellung der anderen ein Scheinleben führen und deshalb bemühen wir uns zu scheinen.» Hier entdecken wir wiederum den Narzißmus im Bemühen, vor den Augen der anderen ein Scheinleben zu führen. Pascal trennt beide Lebensformen; unser Scheinleben und unser wirkliches Leben, und führt weiter, aus: «Unaufhörlich arbeiten wir daran, unser wahngebildetes Sein zu verschönern und zu erhalten, und wir vernachlässigen das wirkliche. Und wenn wir ruhigen Gemütes, oder großzügig und treu sind, bemühen wir uns, es wissen zu lassen, damit man diese Tugenden unserem Schattendasein (das wir in den Augen der anderen führen möchten) anheftet, und eher werden wir uns von ihnen selbst trennen, um sie dem anderen zu verleihen. Leichten Herzens wären wir Feiglinge, nur um dadurch den Ruf, ein Held zu sein, zu erwerben. Gewaltiges Zeichen der Nichtigkeit unseres eigenen Seins ist, daß wir nicht zufrieden sind mit dem einen ohne das andere und oft das eine für das andere eintauschen.»5 Ich hoffe, daß dieses Zitat noch einmal die Wichtigkeit herausstellt, daß wir unsere Selbstliebe und Selbstannahme auf dem Felsen, der Christus heißt, verankern und bauen. Denn allein durch Jesus Christus als Herr unseres Lebens ist es möglich, in echten Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu stehen. Nur durch ihn wird es gelingen, zu einem gesunden Verhältnis zu sich selbst zu finden und ein anziehen des anstatt abstoßendes, zerstörerisches Selbstbewußtsein zu entwickeln. Weil er mich auf der Grundlage seines stellvertretenden Erlösungswerkes so annimmt, wie ich wirklich und in meinem eigentlichen Dasein bin, brauche ich nicht länger in ein Schatten- und Scheindasein zu flüchten. Er zeigt uns auch, wie wir echte und reale zwischenmenschliche Beziehungen knüpfen und gestalten sollen. Dies wird oftmals von uns erfordern, daß wir mit dem Motiv der Liebe hinter die Maske, hinter die Fassaden blicken und sie manchmal entfernen müssen (Joh. 4; Luk. 19, 1-10). Es heißt zudem, daß wir als Christen in jedem Fall zwischen Perle und Schmutz zu unterscheiden wissen, da Jesus die Menschen wie Perlen im Schmutz betrachtet und uns anwies, die Perle zwar zu lieben, den Schmutz jedoch zu hassen. Schließlich werde ich die Menschen nur dann näher kennen lernen, wenn ich bereit bin, mich mit ihnen zu identifizieren, d.h. ihre Situation aus ihrer Sicht zu verstehen – so wie Jesus sich als Sohn Gottes mit uns identifizierte und zu uns herabkam. Auf diese Weise werden wir selbst an Persönlichkeit und Charakter zunehmen, aber auch am Selbstbewußtsein gestärkt im Wissen um die eigene Bedeutung vor Gott ruhen. Wenn wir in unserem Alltagsleben, in der Realität der Welt, diesen Grundsätzen. folgen, wird uns zwar kein erfolgreiches, leichtes Leben verheißen, aber wir werden auf jeden Fall in der Wirklichkeit stehen und um die Hilfe wissen, wie wir sie bestehen können. Und allein mit dieser realen und neuen Sicht von uns selbst und anderen wird es gelingen, die Macht und Fessel des Narzißmus anzugehen und zu durchbrechen. Faustregel und Voraussetzungen bleiben jedoch, und das gilt es sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen,, wenn wir dies erfahren und praktizieren wollen, daß wir die Musik des «Sohnes Davids» als Befreiung unserer uns drückenden Schuldenlast am Kreuz persönlich in Anspruch genommen haben und immer wieder nehmen, um sie dann durch unser Leben nicht als unsere eigene wohlklingende Botschaft, sondern als seine Musik weiterzugeben.

W. Rietkerk

factum Juni 1985 Übersetzung: Hildegund Beimdieke
Quellenangaben
1 Christopher Lasch «The Culture of Narcissism: American Life in an Age of Diminishing Expectations» (New York Norton – 1979) Seite 4
2 ebd. Seite 3
3 Richard Holloway «Beyond Belief:The Christian Encounter with God» (Grand Rapids ”” Eerdmans – 1981) Seite 3
4 Blaise Pascal «Gedanken» (Stuttgart -Reclam – 1978) Seite 56
5 ebd.

http://www.factum-magazin.de/wFactum_de/

Perfektionismus Der Weg zum Himmel – oder zur Hölle?

In unserer Kultur sind wir von den verführerischen Sirenen des Perfektionismus umgeben. Überall wo wir gehen und stehen, wohin wir uns auch wenden, finden wir Werbung, Zeitschriften, Diät- und Fitnessprogramme, die uns dazu verleiten wollen, den perfekten Körper, perfekte Gesundheit, das perfekte Hausund perfekte Kleidung zu haben. Darüber hinaus sind wir umgeben von einer hoch entwickelten Technologie, sodass wir nahezu perfekte Autos, Computer usw. haben können. Letztendlich können wir in jeder Lebenssituation Perfektion erwarten– selbst Fußballfelder mit immer-grünem Gras. Nun ist es natürlich nicht falsch, sich an einem hohen Standard zu freuen. Es ist wundervoll, den Klang von einer fast perfekten HiFi-Anlage zu genießen. Es ist nicht falsch, nach höchster Qualität im Leben zu streben. Auch nicht alle Perfektion ist falsch. Ich möchte dies betonen, denn am Ende dieser Vorlesung mag der Eindruck entstehen, dass Perfektionismus ein großes Übel ist. Es gibt aber auch einige sehr gute Aspekte des Perfektionismus. Viele große wissenschaftliche Errungenschaften und bedeutende Werke der Kunst, Musik und Literatur wurden von Perfektionisten hervorgebracht. Hier möchte ich mich jedoch auf die negativensten Aspekte konzentrieren, weil ich der Ansicht bin, dass sie eine sehr destruktive und lähmende Wirkung bei vielen Menschen haben. Das Problem entsteht, wenn wir zwanghaft glauben, dass Perfektion möglich ist und wir so hohe Maßstäbe haben, dass sie in der Realität unmöglich zu erreichen sind. Allerdings stellt sich die Sache nicht so einfach dar, weil ich in mir bestimmte Lebensbereiche sehe, wo ich Perfektionist bin, während dies in anderen Bereichen nicht einmal annähernd der Fall ist. Ich denke beispielsweise an eine wundervolle Lehrerin, ihre Schüler lieben sie und sie erzielt hervorragende Ergebnisse. Aber als sie ihr erstes Baby bekam, das wie fast alle Babys ziemlich unvorhersehbar und unordentlich war, fühlte sie, dass die Kontrolle verlor und wurde ziemlich deprimiert. Bestimmte Situationen bringen Perfektionismus auf eine sehr negative Art und Weise zum Vorschein, andere führen zu einem positiven Perfektionismus. Wenn der Selbstwert einer Person davon abhängt, solche hohen Maßstäbe zu erreichen, führt dies unweigerlich zur Selbstverurteilung und in eine persönliche Hölle aus sich wiederholenden Fehlern und ewigem Bedauern. Manchmal führt Perfektionismus auch zu verschiedenen Formen der Psychopathologie – von extremen Angstzuständen, Depressionen, Phobien, zwanghafter Sauberkeit, bis hin zu Kontrollzwängen und Ähnlichem. Zunächst möchte ich die dem Perfektionismus zugrunde liegenden Gedankenmuster und Ängste betrachten. Dann werden wir seine Wurzeln untersuchen und schließlich noch auf einige praktische Änderungsstrategien zu sprechen kommen.

Die Gedankenmuster und Ängste des Perfektionismus

Grundlegend für die Lebenseinstellung eines Perfektionisten sind bestimmte Gedankenstrukturen, die aus bestimmten Ängsten heraus entstehen.

1) Alles-oder-Nichts, Schwarz-Weiß- Denken. Ich muss alles genau richtig machen oder es gleich sein lassen. Eine Person, die Dinge in dieser Weise betrachtet, sieht alles in völlig gegensätzlichen Kategorien beispielsweise von absoluter Ordnung oder Chaos, absoluter Sauberkeit oder totalem Schmutz, absolut gut oder absolut böse, ein Heiliger oder ein Sünder sein, ein kompletter Erfolg oder eine absolute Niederlage. Hinter diesem Alles-oder-Nichts bzw. Schwarz-Weiß-Denken steckt eine tiefe Angst zu versagen. Manchmal werden Perfektionisten zwei Typen eingeteilt: getriebene Perfektionisten (driving perfectionists) und besiegte Perfektionisten (defeated perfectionists). Man kann intensiv versuchen, Perfektion in einigen Lebensbereichen zu erreichen, diesen Versuch aber gleichzeitig in anderen Bereichen aufgegeben haben – und so zwischen Getriebensein und Niederlage hin- und herschwanken.

2) Eine Intoleranz der Mehrdeutigkeit. Dieses Problem besteht darin, Ausgeglichenheit oder Spannung mit den unvermeidlichen Polaritäten des Lebens zu leben. Perfektionisten stellen oftmals ihre Gefühle in den Mittelpunkt – sie schwanken von einem Pol zum anderen, ohne jemals völlig zufrieden zu sein. Wir müssen bestimmte Polaritäten zusammenhalten – die Polaritäten von Freiheit und Form, d.h. einerseits Freiheit und Unabhängigkeit zu wollen und andererseits Sicherheit und Verlässlichkeit. Der Perfektionist wird sich häufig vollständig für etwas verantwortlich fühlen oder aber jegliche Verantwortung von sich weisen.

3) Eine Tyrannei der „müsste“ und „sollte“ des Lebens. Hier geht es darum, dass sich bestimmte Verpflichtungen innerlich immer mehr verfestigen. Der Perfektionist ist teilweise von Schuld getrieben, nicht Schuld in Bezug auf Gott, sondern einer Schuld und Scham, die durch den vermeintlichen kritischen Blick der Eltern entstanden ist, durch die Sorge, was andere denken mögen, oder durch das, was wir glauben, was unsere Eltern über unser Verhalten denken. Ich sollte dieses Haus so sauber wie meine Mutter halten können, auch wenn drei Kinder herumtoben“. „Ich sollte in der Lage sein, alle diese Gemeindemitglieder zu besuchen“. Ich sollte nur Einsen bekommen und Mitglied des Tennisteams werden“. Die Erwartung, dass ich ein Heiliger und perfekt sein werde, hat zur Folge, dass jedes Anzeichen von Unvollkommenheit zeigt, was für ein hoffnungsloser Versager ich bin. Und mit jedem Misserfolg geht ein höheres Maß an Schuld und Selbstverurteilung einher „ein Teufelskreis entsteht, indem ich mir sage, dass ich diesen Fehler nicht so häufig wiederholen darf. Die Frage, was ich aus diesen Fehlern lernen kann, wäre in dieser Situation eine gesündere Reaktion. Ja, ich habe einen Fehler gemacht, aber ich kann es wieder versuchen; ist kein völliges Versagen. Vielleicht ist dies gar nicht meine Gabe, vielleicht muss ich nicht so hart mit mir sein und mich nicht so niederschmettern lassen, wenn ich patze“. Ich denke an ein weiteres Beispiel von einer Frau, die so stolz war auf ihr Haus und so eifrig, es absolut perfekt zu halten, dass sie immer den ganzen Teppich mit Zeitungspapier abdeckte, wenn Besucher kamen, damit nichts schmutzig würde. Ihre Kinder konnten fast nie Freunde zum Essen oder gar zum Übernachten mitbringen, weil sie schreckliche Angst davor hatte, dass sie mit ihren schmutzigen Händen die Wände an der Treppe berühren würden. Dies ist ein dysfunktionaler Perfektionismus, weil er Sauberkeit und Ordnung über persönliche Beziehungen stellt. Diese Frau war von Schuld getrieben, von Versagensangst, und noch tiefer liegend von der Angst vor Ablehnung. Diese tiefen Ängste treiben uns in eine Vielzahl von Verhaltensmuster hinein, die allesamt nutzlos und falsch sind. Dahinter verbirgt sich oft das starke Verlangen nach Liebe und Anerkennung.

4) Eine praktische Folge davon, alles richtig machen zu wollen, ist übermäßiges Zögern und Unentschlossenheit. Das Motto des Perfektionisten könnte „Nichts gewagt, nichts verloren“ lauten. Paul Tillich formuliert es in seinem Buch „Mut zum Sein“ so: Es gibt eine Angst, schuldig zu werden, ein Grauen, sich verdammt zu fühlen“. Diese Angst ist so stark, dass sie verantwortliche Entscheidungen und jede Art moralischen Handelns fast unmöglich macht. Paul Tournier sagt, der Perfektionist „möchte alles machen, wählt aber nichts und fängt somit nie an. Leben heißt, das eine zu wählen und das andere dafür nicht, aber diese Menschen werden nichts aufgeben und dadurch alles verlieren.“ Dennis Gibson gibt ein hervorragen- Beispiel eines Perfektionisten, der die Menükarte in einem Restaurant studiert, hin- und hergerissen zwischen dem Seezungenfilet und der Lasagne. Er bestellt das eine, überlegt, wechselt zum anderen, und fordert den Kellner auf, doch wieder das erste zu notieren. Seine genervte Frau löst schließlich das Problem, indem sie sagt: „Ich werde die Lasagne bestellen und du das Seezungenfilet“. Von der offensichtlich ansteigenden Ungeduld des Kellners genötigt, stimmt der Mann zu. Beim Servieren schaut er auf die Lasagne seiner Frau und sagt: „Ich wusste, ich hätte die bestellen sollen.“ Er hat an alles gedacht, damit niemand etwas an seiner Wahl aussetzen kann. Aus Furcht, das Seezungenfilet könnte die falsche Wahl sein, beeilt sich der Mann hinzuzufügen, dass es nicht seine Entscheidung war, weil er dazu gedrängt wurde, und er wirklich lieber das andere gehabt hätte. Man hat Angst sich festzulegen, weil man falsch liegen könnte. Man hat das Verlangen, die Kontrolle in der Hand zu behalten und sein eigenes Schicksal zu steuern. Manchmal vermeiden wir die schwierige Aufgabe eine Entscheidung zu treffen, indem wir zögern, aber als Grund angeben, wir würden „auf den Herrn warten“ oder „Gottes Willen suchen“. Diese Aussagen degenerieren leicht zu Klischees, die Unentschlossenheit rechtfertigen. Es ist einfacher zu sagen, dass wir noch auf den Herrn warten, als eine schwierige Entscheidung zu treffen, die gute oder schlechte Folgen haben kann. Unsere zwanghaften Neigungen schrecken vor Festlegung zurück. Unsere religiöse Sprache bietet uns einen fromm klingenden Deckmantel für Feigheit. Wir legen ein Vlies aus anstatt nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden und aus möglichen schmerzvollen Fehlern zu lernen. Wir wollen nicht durch Versuch und Irrtum lernen, obwohl dies einer der bevorzugten Wege Gottes ist, um uns Weisheit zu lehren. Um im Leben weiterzukommen, müssen wir Standpunkte und mögliche Alternativen fallen lassen. Unser zwanghafter Wunsch immer alles unter Kontrolle zu haben, besteht darauf, alle Möglichkeiten bis zum Schluß offen zu halten falls wir einen Fehler machen. Dabei opfern wir Freude zugunsten der Kontrolle.

5) Beziehungen verschlechtern sich verständlicherweise durch die zugrunde liegende Angst, abgelehnt zu werden. Dies kann zu einer abwehrenden Hypersensibilität gegenüber Kritik führen. Kommunikation über echte Schwierigkeiten, Scheitern oder Kämpfe ist dann sehr schwierig, und bleibt wenig Raum für echte Intimität. Perfektionisten erwarten viel von sich selbst und anderen und sind unvermeidlicherweise enttäuscht und frustriert, was wiederum zu Irritation und Verärgerung führt. Letztlich gibt eine echte Angst die Kontrolle zu verlieren, sodass Gefühle, vor allem Ärger stark unterdrückt werden müssen. Wenn sie dann doch herauskommen, geschieht dies in einer Art und Weise, die für alle sehr beängstigend ist. Das überragende Verlangen besteht darin, alles unter Kontrolle zu haben.

Die Wurzeln des Perfektionismus

1. Überkritische Eltern Perfektionistische Eltern bringen ihren Kinder häufig bei, Perfektionisten zu sein, sowohl dadurch, wie sie Beziehungen gestalten, als auch dadurch, wie sie mit dem Leben zurechtkommen „ihre hohen Erwartungen an sich selbst und an ihre Kinder. Solche Eltern neigen zu drei besonders gefährlichen Veranlagungen:

(1) Eine fehlende Toleranz gegenüber Fehlern dadurch eine übersteigerte Kritik an sich selbst und an den eigenen Kindern. Diese Eltern brauchen die Worte des Paulus: „Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn“.

(2) Sie haben große Schwierigkeiten, ihre Zuneigung zeigen oder jemand zu loben, weil selbst nicht viel davon erlebt haben.

(3) Anerkennung ist immer an Bedingungen geknüpft, zumindest kommt es so bei dem Kind an. Wenn nicht vorne dabei ist, wenn es keine Eins bekommt, dann kann es sein, dass es nicht akzeptiert wird. PsychodynamischeTheorien Sigmund Freud war der Überzeugung, dass Perfektionismus und zwanghafte Neigungen eine Fixierung während der Analphase darstellen, der Zeit des Toilettentrainings. Er lag richtig, dass in dieser Zeit im Kopf eines Kindes Kämpfe mit seinen Eltern ablaufen, nicht so sehr das Toilettentraining an sich betreffend als viel-     mehr die Fragen von Macht und Kontrolle. Wenn ein Kind (im Alter von 18 Monaten) z.B. anfängt mit Trennung und Unabhängigkeit zu experimentieren und die Mutter ärgerlich reagiert, dann kann das Kind innerlich Hassgefühle gegenüber der Mutter und gleichzeitig ein enormes Bedürfnis nach ihr empfinden – ein sich verstärkendes Schwanken zwischen Hass und Liebe. Ein Kind benötigt viel Hilfe, um über diese Phase hinwegzukommen, und in einem guten, liebevollen, fürsorglichen Zuhause wird dieses Stadium leicht überwunden. Das Kind lernt mit Unabhängigkeit, Abhängigkeit und starken Emotionen umzugehen. Harry Stack Sullivan, ein post- ‘freudianischer Psychotherapeut und Analytiker, glaubte, dass Perfektionismus auf die Unsicherheit in einer Familie, in der es wenig Liebe gibt, zurückzuführen ist. Wo Durcheinander und Chaos in der Familie herrscht, kann es sein, dass das Kind in seinem eigenen persönlichen Bereich alles sehr ordentlich macht, um mit dem es umgebenden Durcheinander zurechtzukommen. Um die Vorhersehbarkeit von Ereignissen zu erhöhen, wird diese Person dafür sorgen, dass ihr Zimmer jeden Tag gleich aussieht, sie ihre Kleidung immer in der gleichen Reihenfolge auszieht und an exakt demselben Platz ablegt. Es mag sein, dass sie jeden Tag den gleichen Weg zur gleichen Uhrzeit nimmt. Sie will das Risiko minimieren, unerwartet durch ein Ereignis getroffen zu werden, das zu Schwierigkeiten, Konflikten und emotionalem Aufruhr führen könnte. Wenn die Welt nicht geordnet ist, wenn geschätzte Dinge sich verändern, kann Chaos in ihrem ganzen Leben entstehen. Leon Salzmann, Autor von „The Obsessional Personality“, schreibt: „Es gibt guten Grund zu glauben, dass der zwanghafte Verteidigungsmechanismus die weitverbreitetste Technik ist, die es Menschen möglich macht, eine gewisse Illusion von Sicherheit in einer unberechenbaren Welt zu erlangen“. Karen Horney, eine neofreudianische Analytikerin, hob die Art und Weise hervor, wie wir ein idealisiertes Bild unseres Selbst entwickeln, um mit Gefühlen wie Unsicherheit, Unterlegenheit und Selbstverachtung fertig zu werden. Sie spricht von dem idealisierten Bild als ein „verzehrendes Monster“: „Wenn wir Selbstverachtung und ihre verheerende Kraft betrachten, können wir nicht anders als darin eine große Tragödie zu sehen, vielleicht die größte der Menschheit. Indem sich der Mensch nach dem Unendlichen und Absoluten ausstreckt, beginnt er zugleich sich selbst zu zerstören. Wenn er einen Pakt mit dem Teufel schließt, der ihm Ruhm verspricht, muss er in die Hölle, die Hölle in sich selbst“.

3 Gene, Temperament und Kultur

Selbstverständlich haben Kinder von früh an verschiedene Persönlichkeiten und Temperamente, und einige Kinder sind Perfektionisten im Sinne von Ordentlichkeit und dem Zwang, Dinge prüfen. Es gibt auch einige kulturelle Prädispositionen. Japan und die Schweiz sind perfektionistische Kulturen. Sie bringen eine Menge guter Dinge mit hoher Qualität und exzellenten Standards hervor. Es gibt auch perfektionistische Subkulturen, und ich glaube, dass einige Kirchen in diese Kategorie fallen. Dort ist es nicht erlaubt, seine wahren Gefühle, Schwierigkeiten oder Kämpfe im Leben zu zeigen, vielmehr muss man so erscheinen, als ob alles im Leben gut läuft! Probleme zu haben zeigt, dass man keine reife oder geistliche Persönlichkeit ist.

4. Reaktion auf eine gefallene Welt

Wir müssen nun die Perspektive von den Details des alltäglichen Lebens auf die großen Fragen nach unserer Herkunft und Bestimmung lenken. Wir müssen fragen, warum wir die Probleme haben, die wir haben. Aus der Bibel wissen wir, dass wir von Gott vollkommen geschaffen wurden in einer vollkommenen Welt. Wir wissen auch, dass wir eines Tages wieder vollkommen sein werden. Viele unserer Bestrebungen und Sehnsüchte spiegeln somit die Realität dessen wider, wer wir wirklich sind. Doch seit der Rebellion von Adam und Eva ebenso wie unserem eigenen Schuldigwerden, leben wir in einer unvollkommenen, gefallenen Welt, in der wir einige der Frustrationen akzeptieren müssen, die aus der Unvollkommenheit erwachsen – bis Christus wiederkommt. David Brenner schreibt: „Die Suche nach Vollkommenheit ist eine geistliche Suche. Es ist die Suche nach Ganzheit. Viel mehr als die Suche nach der Abwesenheit von Fehlern ist es die Sehnsucht nach dem Ideal, nach dem, was richtig, schön und rein ist. Obwohl es einfach ist, solche Sehnsüchte als Naivität anzusehen, ist eine Person, die jeglichen Idealismus und Hang zum Perfektionismus verloren hat, sehr bedauernswert. Die Sehnsüchte von Perfektionisten erinnern uns fortwährend an unsere Schwächen und Beschränkungen, aber ohne solche Erinnerungshilfen würden wir um so leichter vergessen, dass das Paradies, obwohl verloren, der Platz ist, nach dem wir uns sehnen.“ In gleicher Weise sind wir ursprünglich von Gott geschaffen worden, um in Beziehungen zu leben – mit Gott und mit anderen – und um über die restliche Schöpfung zu herrschen. Wenn das Vertrauen in Beziehungen schon in frühen Jahren ausgehöhlt wurde, wird ein Kind dazu neigen, sich selbst vor dem Schmerz einer tiefen, aber nicht erfüllten Sehnsucht nach Liebe, Bestätigung und Zuneigung zu schützen, indem es lernt, Gefühle und andere Menschen zu steuern, um wenigstens einige Bedürfnisse zu stillen. Dieser Lebens und Beziehungsstil wird sich oft bis ins Erwachsenenalter durchziehen. Die ursprünglich gottgegebene Aufgabe der Herrschaft ist verfälscht und wird eingespannt in dem Versuch, alles im Leben zu beherrschen. Diese sündhaften Strategien, den Schmerz zu unterbinden und Bedürfnisse zu erfüllen, mögen kurzfristig funktionieren, doch langfristig verschlimmern sie das Problem, da sie letztendlich sehr egoistisch sind. Salzmann’s Arbeiten deuten darauf hin, dass es zwei große Themen in der perfektionistischen, zwanghaften Denkweise gibt. Das erste ist eine negative Einstellung gegenüber der Tatsache, dass man eine begrenzte Person in einer Welt der Ungewissheit ist. Jemand äußerte einmal, er sei wütend, dass er nur einen endlichen Verstand habe. Er war ausgesprochen frustriert, endlich und gefallen zu sein, denn wenn er perfekt wäre, gäbe es nicht die Gefahr zu versagen oder abgelehnt zu werden. Hierin können wir die Attraktivität einer perfektionistischen Theologie sehen, in der Gesundheit und Wohlstand versprochen werden. Diese Erwartung impliziert, dass wir die Einschränkungen einer gefallenen Welt überschreiten und den Himmel schon jetzt haben können. Zu viel wird zu schnell versprochen. Ein Großteil der Attraktivität der New-Age-Bewegung liegt in dem Versprechen der Vollkommenheit durch unsere eigene Anstrengung oder durch eine veränderte Sicht der   Realität und den Glauben, dass alles schon perfekt ist. Die Vorliebe des Perfektionisten für die Illusion der Kontrolle und die Möglichkeit, das Leben vorhersehbar zu machen, ist der zweite Punkt von Salzmann. Gibson spricht von der „Gier nach Allmächtigkeit“. Der Perfektionist möchte nicht, dass irgendjemand ihn beherrscht. Er möchte die vollständige Kontrolle oder gar keine. Dies erinnert an die Versuchung von Adam und Eva: „Ihr werdet sein wie Gott“ (1. Mose 3). Ihr werdet herrschen, ihr werdet nicht eingeschränkt sein, ihr werdet nicht endlich sein, ihr werdet wie Gott sein, ihr könnt es selbst schaffen“. Genau deshalb ist der Perfektionismus der Weg zur Hölle, denn im Grunde genommen besagt er, dass du Gott sein kannst und alles, was geschehen wird, beherrschen kannst. Es ist nicht verwunderlich, dass wir ähnlich empfinden, denn im Vergleich zu unseren Vorfahren vor 500 Jahren haben wir in sehr starkem Maße gelernt, unsere Umwelt und auch unsere Gesundheit zu kontrollieren.

Die zentrale Bedeutung der Gnade

Alle großen Weltreligionen außer einer haben dieselbe treibende Kraft: Wie kann der Mensch seine Endlichkeit überwinden und wie Gott werden? Und die meisten der großen Religionen haben Rituale, Wege, um sich selbst gut genug zu machen. Alle großen Religionen bis auf eine sind ein ‘Verfahren’, um Furcht und Angst zu schmälern durch menschliche Errungenschaften, durch Werke und Rituale, im Dienste irgendeines Gottes – um so schließlich die Illusion möglicher Akzeptanz und Sicherheit zu vermitteln. Das Christentum ist zutiefst und in wundervoller Weise anders. Francis Schaeffer wurde nicht müde zu betonen, dass das Christentum die leichteste und schwerste Religion zugleich ist. Es ist die leichteste, weil wir mit nichts, mit leeren Händen zum Kreuz kommen. Und gleichzeitig ist es die schwerste aus genau dem gleichen Grund. Unser Stolz will uns nicht annehmen lassen, dass wir mit offenen Händen kommen. Wir wollen immer etwas tun, zu unserer eigenen Erlösung beitragen, ultimativ die letzte Karte selbst in der Hand halten, derjenige sein, der sagt, wir haben die Kontrolle anstelle von Gott. Doch der Perfektionismus kann auch der Weg in den Himmel sein, weil er uns dahin treibt zu erkennen, dass wir Gottes Ansprüchen nicht durch eigenes Tun genügen können. Wie das (alttestamentliche) Gesetz, so führt auch der Perfektionismus „auf Christus hin, damit wir durch den Glauben gerecht würden“ (Gal. 3,24). Wir kommen mit nichts und nehmen das Geschenk seiner Liebe, Annahme und seines Opfers am Kreuz für uns an, beugen uns in tiefer Abhängigkeit, unterwerfen unseren Willen dem seinen, wissend, dass wir angenommen, geliebt und wertgeschätzt sind – nicht aufgrund dessen, was wir tun, sondern weil wir erkennen, wie unvollkommen wir sind, wie sündig und wie wenig wir mit Gottes Vollkommenheit mithalten können. In Gottes Augen hängt mein Wert nicht von meinen Werken ab. Ich muss nicht unter dem Gesetz leben, sondern unter der Gnade. So viele der perfektionistischen Christen leben immer noch unter dem Gesetz. Irgendwie können sie sich die Gnade Gottes nicht aneignen, weil eine grundlegende Unsicherheit da ist mit einer tiefen Angst vor Ablehnung, Versagen, Nicht-Sein und dem Verlust der Kontrolle. Aber alle diese Ängste werden ‘angegangen’, wenn ein Mensch zurückfindet in die Beziehung zu dem liebenden Gott, der uns mit allen unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten annimmt. Er hat Pläne, wie er diese alte zerfallene Hütte meines Lebens in einen glanzvollen Palast umwandeln kann, der es wert ist, dass ein König darin lebt. Und er ist derjenige, der uns vollkommen machen wird, denn aus uns selbst heraus können wir dies nicht. Man mag einwenden, dass es doch eine Bibelstelle mit einer Aussage von Jesus gibt, die den Perfektionisten rechtfertigt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5, 48). Ist das nicht genug? Ist das nicht die einzige Aufforderung, die wir brauchen? Dieser Text deutet sicherlich die Richtung an, in die wir gehen müssen. Das griechische Wort, das mit „vollkommen“ übersetzt wird, ist ‘teleios’ und bedeutet wörtlich ausgereift, ein vorgegebenes Ziel erreichend. Wir sind aufgefordert, reif und heilig zu sein. Paulus erkennt jedoch, dass noch keine Vollkommenheit herrscht: „Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören“ (1. Kor. 13,10). Eines Tages werden wir vollkommen sein, aber noch nicht heute. „Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber   nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin“ (Phil. 3,12). Paulus spricht auch von der „Verklärung von einer Herrlichkeit zur anderen“ (2. Kor. 3,18). Wir sind gerettet und gerechtfertigt, und wir sind jetzt in einem Prozess der Veränderung, der Erneuerung und der Vervollkommnung.

Strategien zur Veränderung

Nun mögen wir zwar wissen, dass wir uns selbst nicht perfekt machen können, und dennoch mit perfektionistischen Tendenzen kämpfen. Unsere sündige Natur ist immer noch aktiv und wir brauchen Hilfe, um die vielen alten, unsicheren, perfektionistischen Gedankengänge, die weiterhin in unseren Köpfen ablaufen, zu verändern. Wir mögen wissen, dass wir von Gott angenommen sind, fühlen es aber in unserem Herzen häufig genug nicht. Und deshalb leben wir nicht so, als ob wir angenommen wären. Wie können wir uns und anderen helfen, sich zu verändern, mehr wie Christus zu werden, reifer zu werden? Erkenntnis ist hilfreich, aber oft nicht ausreichend. Tatsächlich sind Perfektionisten sehr gut im Erkennen und Verstehen der Wurzeln ihres Problems, aber sie können nichts ändern und brauchen deshalb praktische Strategien als Hilfestellung. Weil uns die Kämpfe, die ein Perfektionist hat, um mit dem Leben zurechtzukommen, nicht fremd sind, kann es zu einer Balance kommen zwischen Mitgefühl und Herausforderung, zwischen einer Umarmung und einem Tritt! Dies ist wirklich eine Konfrontation mit der Realität. Eine perfektionistische Freundin hatte eine solche Konfrontation mit der Realität als sie als Missionarin nach Afrika ging. Umgeben von Dreck, Unvollkommenheit und Chaos, wo niemand wusste, welche Uhrzeit gerade ist und nichts pünktlich lief, musste sie sich ändern! In dieser potentiell sehr beängstigenden Situation erkannte sie, dass sie in einer nicht realen Fantasiewelt gelebt hatte mit dem Glauben, Perfektion auf Erden sei (annähernd) möglich! David Burns zählt einige Wege auf, Menschen mit kognitiven Therapien zu helfen:

(1) Bitte die Person alle Vor- und Nachteile des Bemühens, Perfektion im Leben zu erreichen, aufzulisten. Ein Mädchen wurde gebeten, dies zu tun, und konnte zwei Vorteile und sechs Nachteile auflisten. „Es macht   mich so nervös und angespannt, dass ich manchmal keine gute oder zumindest befriedigende Arbeit tun kann. Zweitens bin ich oft nicht bereit, die Fehler zu riskieren, die nötig sind, um ein kreatives Stück Arbeit zu bewerkstelligen. Drittens hindert mich mein Perfektionismus daran, neue Dinge auszuprobieren und neue Entdeckungen zu machen, weil ich so damit beschäftigt bin, ungefährdet zu sein…. Wenn man die Vor- und Nachteile aufschreibt, fängt man an zu sehen, dass die Kosten den Nutzen übersteigen.

(2) Um zu versuchen, das gestörte Alles-oder-Nichts-Denken umzuprogrammieren, bittet David Burns Perfektionisten „einen Tag lang zu überprüfen, ob die Welt in sinnvoller   Weise gedeutet werden kann, wenn man nur die Kategorien ‘Alles’ oder ‘Nichts’ verwendet“. Sind diese Wände völlig sauber oder gibt es dort etwas Schmutz? Ist diese Person vollkommen hübsch oder total hässlich oder irgendwo dazwischen? Die Aufgabe zeigt normalerweise deutlich die Irrationalität dieses dichotomischen Denkens.

(3) Führe eine tägliche Liste aller selbstkritischen Gedanken „der Gedanken, die von selbst entstehen, wenn jemand unter Druck ist. Du verlierst ein Tennisspiel und versinkst sofort in tiefste Verzweiflung, weil du denkst, vollkommen versagt zu haben. Du kochst ein Essen und es geht schief „das ist das Ende der Welt. Natürlich gibt es andere Wege, diese Dinge zu beurteilen, aber du musst zunächst erkennen, dass du gewöhnlicherweise so reagierst, um zu begreifen, dass du etwas ändern musst und dabei auf Hilfe von anderen angewiesen bist. Du brauchst kein Opfer deiner automatischen Gedankengänge zu sein. Du kannst selbst agieren, indem du dich für einige Veränderungen entscheidest und gegen bestimmte Verhaltensmuster angehst.

(4) Setze realistische Ziele. Die meisten Perfektionisten nehmen an, dass dann, wenn man sich die höchsten persönlichen Ziele setzt, dies auch zu den besten Leistungen führt. Aber sie haben diese Annahme niemals objektiv getestet. Athleten und Geschäftsleute, die nach Höchstleistung streben, bleiben oft darunter, doch wenn man das Durchschnittliche anvisierst, wird man häufiger Erfolg haben.

(5) Perfektionisten müssen heraus gefordert werden im Blick auf das Bild, das sie von ihrer Gottesbeziehung haben, vor allem Annahme und Vertrauen betreffend. Sie müssen lernen, sich auf Tatsachen und nicht auf Gefühle zu verlassen. Ein gutes Beispiel für das verdrehte Denken des Perfektionisten geben Minirth und Meier: „John P. Workaholic fühlt sich unsicher in Beziehungen, auch in derjenigen zu Gott. Da die Liebe, die er von seinen Eltern erfahren hat, auf Bedingungen basierte, denkt er dasselbe von Gott. Dadurch hat er Probleme mit seinem Glauben und zweifelt an seiner Erlösung. Um diesem Zweifel zu begegnen, nimmt John einen extrem calvinistischen Standpunkt ein. Er hat ein überzogenes Verständnis von der Souveränität Gottes und glaubt, dass das Individuum absolut keine Verantwortung für sein Leben trägt. Natürlich ist die einzige Aufgabe des Menschen in Bezug auf die Errettung, an Jesus Christus zu glauben, doch John neigt dazu, darüber noch „es gibt absolut keine menschliche Verantwortung. Dies hilft ihm, seine tief sitzenden Unsicherheiten und Ängste, abgelehnt zu werden, zu kontrollieren. Tatsächlich bittet John jedoch im Stillen Gott allen Ernstes hundert Mal in sein Leben zu kommen, denn tief innerlich fühlt er nicht, dass Gott ihn ohne Bedingungen annehmen könnte. So denkt er wie ein Hyper-Calvinist, um von seiner Schuld befreit zu werden, aber er fühlt wie ein Armenier „von Gott angenommen nur auf der Basis von Bedingungen.“ Ein anderer Therapeut gibt ein Beispiel davon, wie er einem Patienten half, sich von diesem Bild Gottes zu befreien. Er ließ Tom die Rolle Gottes übernehmen. Tom konnte nicht glauben, dass Gott ihn so, wie er ist, akzeptieren könnte, und er meinte, wenn er in Reue zu Gott käme, würde dieser irgendwie erwarten, dass er perfekt sein sollte. Der Therapeut ließ Tom in der Rolle Gottes vier Dinge zu einem imaginären Tom sagen. Erstens, „Tom Du bist nicht gut genug, dass ich dir vergebe“; zweitens, „Es ist dir möglich, gut genug zu werden, dass ich dir vergebe“; drittens, „Deine Errettung, Tom, hängt von deiner Anstrengung ab“; und viertens, „Tom, hiermit erkläre ich das Konzept der Gnade für ungültig.“ Diese halbhumorvolle Technik half Tom, sein falsches Verständnis von Gottes Gnade zu erkennen.

Das Umfeld für Veränderung – eine andere Familie

Wir stehen nicht allein im Kampf. Wir brauchen uns gegenseitig im Prozess der Heiligung und der Veränderung. Dabei ist die Struktur der Kirche von besonderer Bedeutung. Individuelle Seelsorge alleine ist unangebracht. Ich glaube, dass es wichtig ist, kleine gemeinschaftliche Gruppe zu haben, in denen man sich angenommen fühlt, so, wie man ist. Es mag einige Monate oder auch Jahre dauern, bis wir so viel Vertrauen entwickelt haben, dass wir anderen Menschen zu sehen erlauben, dass wir gar nicht so perfekt sind, und bereit werden, diese Neigungen und die Schwierigkeiten des Lebens mit ihnen zu teilen. Wir müssen gemeinsam begreifen, wie Paulus, David oder andere ‘Männer Gottes’ mit dem Leben rangen. Wir müssen fähig werden zu akzeptieren, dass wir Fehler machen, dass wir nicht auf alles eine Antwort haben und dass wir manchmal in dieser unsicheren, gefallenen Welt handeln müssen ohne alle Konsequenzen unseres Handelns zu kennen. Wir müssen den Mut haben, aus unserem vorhersehbaren Lebensstil auszusteigen. In L’Abri lernen wir die Menschen, die zu uns kommen, recht gut kennen. Sie bleiben manchmal bis zu drei Monate am Stück und studieren mit uns, arbeiten mit uns, essen mit uns und nehmen auch ein Stück weit an unserem Familienleben teil. Diese Alltäglichkeiten helfen oft den Perfektionisten, aus ihren eingefahrenen Denkmustern auszubrechen. Der Staubsauger versagt und wir haben keinen zweiten, der funktioniert. Nachdem man im Garten Unkraut gejätet hat, bleibt dieser nicht lange so. Für ein Mädchen war Volleyball spielen die Befreiung von ihrem Perfektionismus. Es dauerte zwei Monate, sie zum Mitspielen zu bewegen, aber irgendwann riskierte sie es. Ihre Angst bestand darin, abgelehnt zu werden, wenn sie nicht gut genug spielen konnte. Aber sie erkannte, dass sie akzeptiert wurde, auch wenn sie nur sehr mittelmäßig spielte. Diese Erfahrung half ihr, auch in anderen Lebensbereichen etwas zu wagen. Ein anderes Mädchen schrieb: „Ich wurde angenommen, ich wurde frei, mein Bestes zu geben „ohne die lähmende Angst zu versagen oder abgelehnt zu werden.“ Zu lernen, ehrlich mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit Schuld und Bitterkeit umzugehen, gehört ebenfalls zum Kern von Veränderung. Zu lernen, anderen zu vergeben   und Vergebung anzunehmen, ist von entscheidender Bedeutung für den Heilungsprozess. Dies sind Themen für andere Vorträge. Gibson fasst den fortwährenden Kampf zusammen, indem er auf Salzmann’s Beschreibung der zwanghaften Persönlichkeit antwortet: „Das Wichtigste im Blick auf die Erneuerung unseres Denkens ist die Tatsache, dass wir beschränkte Säugetiere in einer gefährlichen Welt sind. Der zwanghafte Perfektionist sagt: Ich werde die Beschränkungen nicht tolerieren. Ich will die Kontrolle haben. Ich kann die Kontrolle haben.’ Salzmann behauptet sehr kraftlos, dass wir unsere Beschränkungen akzeptieren müssen, dann werden wir zufrieden sein. Ein falscher Trostspender rät dem Zwanghaften: ‘Die Welt ist gar kein gefährlicher Ort, so wie du es fürchtest. Vertraue nur. Du wirst nicht verletzt werden.’ Aber das Christentum lehrt, dass wir begrenzt   sind, dass die Welt gefährlich ist „es ist nicht nur möglich, sondern sicher, dass man da draußen verletzt wird. Aber das Christentum lehrt auch, dass wir das alles zulassen können, weil es nur ein kleiner Ausschnitt in einem größeren Bild ist. Es gibt einen liebenden Gott, der alles zu einem Ende führt, das auch unser Wohlergehen beinhaltet. Er ist der, der zu dir sagt: ‘ICH BIN, deshalb brauchst du dich nicht zu fürchten.’ Die Antwort liegt darin, sich dem lebendigen Gott unterzuordnen und diese Unterordnung wird uns von der Knechtschaft, unseren eigenen Weg haben zu müssen, befreien. Wahre Freiheit finden wir, indem wir uns seinem Willen unterordnen.“ Gibson kommt zu dem Schluss: „Salzmann lässt uns zurück mit einem zynischen Achselzucken, doch das Evangelium der Gnade Gottes lässt uns zurück mit einem Lied: ‘verloren im Staunen, in Liebe und Lob’.“ Richard Winter Francis Schaeffer Institute Covenant Seminary St. Louis, USA

Literatur: Benner, David: Psychotherapy and the spiritual quest. Hodder and Stoughton, 1989. Burns, David: The Perfectionist’s Script for Self-Defeat’ in Psychology Today, Nov, 1980. Gibson, Dennis: The Obsessive Personality and the Evangelical’ in Journal of Psychology and Christianity, Vol.1, No.3. Horney, Karen: Neurosis and Human Growth. New York, Norton, 1950. Minirth, Frank and Meier, Paul: Happiness is a choice. Grand Rapids, Baker, 1978. Salzmann, Leon: Treatment of the Obsessional Personality. Übersetzung der „L’Abri Lectures No. 5“ http://www.labri.org/germany/resource/Akzente_2005_1.pdf

 

Ursache und Bedeutung von Scham- und Schuldgefühlen

Scham- und Schuldgefühle sind uns allen vertraut, dennoch reden wir nicht gerne darüber oder forschen wir nicht nach ihren eigentlichen Ursachen. Das liegt einerseits darin begründet, daß wir oftmals die beiden Begriffe «Scham» und «Schuld» für identisch halten und fälschlicherweise im Austausch gebrauchen. Andererseits sind sie selten Thema christlicher Verkündigungen. Die Bedeutung der beiden Begriffe wird uns am besten von ihrem jeweiligen Gegenteil her deutlich, Der Gegensatz von Schuld ist Unschuld oder moralische Tadellosigkeit, während er bei Scham Ehre und Anerkennung ist. Wir denken da an Bibelworte wie:«… und ihre Ehre ist in ihrer Schande» (Phil. 3,19). Die Schande, die an und für sich schamwürdig wäre, wird hier von Gott als unehrenhaft bezeichnet. Scham und Schuld entstehen, wenn man bestimmten Anforderungen nicht genügt und von einem subjektiven Empfinden der Unzulänglichkeit und Schlechtigkeit begleitet wird. Dabei ist das Schuldgefühl eindeutig dem Bruch einer Verordnung, eines Gesetzes öder Gebotes zuzuschreiben und somit Bestandteil eines festen moralischen Rahmens. Weniger eindeutig ist, warum man sich in bestimmten Fällen schämt oder schändlich und minderwertig vorkommt. Es stellt sich daher die Frage, welchen Anforderungen wir nicht gerecht werden oder welche Maßstäbe verletzt werden, wenn wir Scham empfinden. Wenn wir die dreifache Beziehung zwischen Scham und Schuld betrachten, wird die Definition klarer. Weiterlesen

Warten auf Godot

Zum Weltbild des absurden Theaters
Als Beispiel für das Weltbild des absurden Theaters wollen wir das Werk Samuel Beckens «Warten auf Godot» betrachten.
Inhalt
«Warten auf Godot» spielt auf einer Landstraße in der Nähe eines Baumes. Hier warten zwei Personen, Wladimir und Estragon, auf Godot, der jedoch im Stück selbst nie auftritt. Während des Wartens unterhalten sich die beiden, um die Langeweile zu vertreiben. Auch ihr Zusammentreffen mit Pozzo und seinem Diener Lucky ändert nichts an ihrer Situation. Ein junger Bote vertröstet sie aber mehrfach auf den nächsten Tag, ohne daß etwas geschieht. Bis zum Ende des Stückes wagen Wladimir und Estragon weder wegzugehen, noch den mehrfach geplanten Selbstmord auszuführen.
Grundbegriffe
Der eigentliche Sinn der Existenz der beiden Helden ist das Warten auf Godot. Doch dadurch, daß Godot nie auftaucht, wird dieser Sinn absurd und sinnlos. Wenn sie trotzdem bleiben, liege das daran, daß sie die Hoffnung nicht aufgegeben haben, doch noch Godot zu treffen. Durch das Treffen würde sich ihr Leben verändern, ihre Situation würde sich bessern, auch wenn Wladimir behauptet, eigentlich keinen Anspruch auf Besserung zu haben. Wenn sie Besserung erhoffen, muß ihr gegenwärtiger Zustand dementsprechend schlecht sein. Da sie außer dem Warten auch keinen Sinn und Zweck haben und dazu nichts Ablenkendes passiert, ist alles sinnlos, langweilig. Um sich dessen nicht bewußt zu werden, müssen sich die Personen unterhalten. Die Sprache hat also eine völlig neue Funktion. Sie hält die Redenden zwar zusammen, schafft aber erst recht die Isolation des Individuums, indem sie nur noch dazu dient, die fehlende Handlung und Aktivität zu ersetzen. Da die Hoffnung nie erfüllt wird, das Warten also sinnlos ist, dies die Handlungspersonen jedoch nicht wissen, können wir drei Zentralbegriffe des Absurden heraus1ösen Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit und Ungewißheit. Weiterlesen